"Ich bin ein Mann von Grundsätzen!"
Diesen Satz schrieb Friedrich Hölderlin über sich selbst in einem
seiner Briefe. Seine Geradlinigkeit und Unbestechlichkeit sowie
sein überaus starker Wille haben sich wie ein roter Faden durch
sein ganzes Leben gezogen.
Im Sommer 1795, also in der besagten Zeit als Wilhelmine niederkam, wurde Freiherr Heinrich von Kalb laut offiziellem Taufbucheintrag am 12. Juni 1795 in Weimar Vater einer Tochter.
Das Foto zeigt die urkundliche Abschrift des Kirchenbuches der Familie von Kalb, die Emil Palleske in seinem Buch 'Charlotte' 1879 veröffentlichte. Die Tauf- und Sterbedaten decken sich mit den Abschriften der Kirchenbücher von Karina Kulbach-Fricke und Reinhold Albert.
Der Hölderlinturm befindet sich direkt am Neckarufer (Foto mit
der Abendsonne, die hinter Schloss Hohentübingen untergeht).
Hölderlin hatte einen wunderschönen Blick ins Grüne, was sein
Dichterherz zeitlebens inspirierte.
Im Frühjahr und Herbst hängen morgens die Nebel über dem Wasser
und verleihen der Flusslandschaft eine mystische Aura. Bis zum
Mittag dringen die Sonnenstrahlen durch. Das Sonnenlicht spiegelt
sich auf den Neckarwellen und wird an die Decke von Hölderlins
Zimmer geworfen. Im Hochsommer wurde Hölderlin schon früh von der
Morgensonne geweckt. Oftmals stand er aber sogar schon vor
Sonnenaufgang auf.
20. März 1770 Johann Christian Friedrich Hölderlin kommt in Lauffen am Neckar als erstgeborenes Kind des Klosterhofmeisters Heinrich Friedrich Hölderlin und der Pastorentochter Johanna Christiana Heyn zur Welt.
05. Juli 1772 Hölderlin wird mit dem plötzlichen Tod seines Vaters konfrontiert, der einen Schlaganfall erleidet. Die Mutter verwaltet seitdem Hölderlins Erbe und erzieht ihn im pietistischen Sinne. Noch vor seiner Einschulung verpflichtet ihn seine Mutter der Kirche. Hölderlin soll wie sein Großvater Andreas Heyn Pfarrer werden, was er jedoch zeit seines Lebens ablehnt. Vielmehr fühlt er sich zum Dichter berufen.
Das Foto links zeigt das Hölderlindenkmal in der öffentlichen Gartenanlage des ehemaligen Klostergeländes in Lauffen am Neckar, wo Besucher gerne Blumen ablegen.
Das Foto links zeigt das Geburtshaus Hölderlins, das aufwändig saniert wurde und am 20. März 2020 eingeweiht werden sollte. Leider musste durch die angespannte Gesundheitssituation im Lande u.a. diese geplante Veranstaltung abgesagt werden. Die Bauarbeiten waren im August 2020 noch nicht ganz abgeschlossen.
22. September 1774Wiedervermählung der
Mutter Johanna mit Johann Christoph Gok in Nürtingen, der für
Hölderlin ein lieber Ersatzvater wird. Gok betreibt in Nürtingen
Weinhandel und auch wie meine Vorfahren Landwirtschaft.
Christoph Gok ist Kammerrat und wird zu einem späteren Zeitpunkt
auch dritter Bürgermeister der Stadt Nürtingen.
Hölderlins Halbbruder Karl (1776-1849), das erstgeborene Kind in
zweiter Ehe mit Christoph Gok, gab gesammelte Werke Hölderlins beim
Verleger Cotta in Auftrag.
1776 - NürtingenDas abgebildete
Wohnhaus von Hölderlins Mutter Johanna, die mit ihrem zweiten
Ehemann Christoph Gok in Nürtingen dort einzieht, wurde im Jahr 1776
auf dem ehemaligen Schlossareal durch Hölderlins späteren
Lateinschullehrer Johann Georg Fischer erbaut, worüber eine
Gedenktafel am Haus Auskunft gibt. An der Stelle des heutigen
Hölderlinhauses stand einst der sogenannte Schweizerhof.
Desweiteren steht dort geschrieben, dass von 1798 bis 1802 die
Mutter zusammen mit Hölderlins Schwester Heinrike Breunlin in diesem
Haus wohnte.
Von 1826 bis 1832 bewohnten Eduard Mörikes Mutter und Geschwister
das Dachgeschoss. Mörike kam regelmäßig zu Besuch und ihm gefiel
besonders die Lage, was er in seinem Brief an Wilhelm Hartlaub
schrieb.
1776/1777Hölderlin wird eingeschult, besucht zunächst die Lateinschule in Nürtingen und erhält Privatunterricht in Latein, damit er für die höhere Schulbildung, das Landesexamen, zugelassen wird.
13. März 1779 Johann Christoph Gok stirbt an Lungenentzündung, die er sich zugezogen hatte, als er zuvor bei einem Hochwasser in Nürtingen in seiner Funktion als Bürgermeister mit vollem Körpereinsatz mithalf, das Städtchen mit Dämmen vor den Fluten des Neckars zu schützen und sich dabei erkältete - für Hölderlin und die Mutter ein weiterer schmerzlicher Verlust. Hölderlin sah seine liebe Mutter Johanna eigentlich nur noch weinen, deshalb wollte er ihr ja auch keinen weiteren Kummer bereiten, aber sein Drang, sich geistig frei zu bewegen, war dennoch größer als seinen Dienst nach Vorschrift zu machen.
Diese Gedenktafel wurde anlässlich des 200. Geburtstages Friedrich
Hölderlins in Nürtingen neben der Kreuzkirche am Brunnen errichtet.
Auf dem Kirchhof der Kreuzkirche befanden sich früher die Gräber der
Mutter Johanna und des Stiefvaters Christoph Gok.
Hölderlins Schwester Heinrike verstarb 1850 ebenfalls in Nürtingen.
Das Foto zeigt die am Fuße der Schwäbischen Alb gelegene
Karstquelle der Blau, den berühmten türkisblauen 'Blautopf' in
Blaubeuren bei Ulm, wo Hölderlins Schwester Heinrike (1772-1850)
nach ihrer Hochzeit mit Pfarrer Breunlin und ihren Kindern lebte und
wirkte, bevor sie nach dem Tod ihres Mannes nach Nürtingen zu ihrer
Mutter Johanna zog.
20. Oktober 1784 Hölderlin besucht von nun an die Klosterschule in Denkendorf. Damals hatte er bereits viele kreative Ideen im Kopf. Um die Weihnachtszeit 1785 verspürte er eine besonders große Lust zu dichten und begann, "tausend Entwürfe zu Gedichten" zu planen.
15. März 2020 Zu Hölderlins 250.
Geburtstag wurde ihm der Hölderlin-Brunnen auf dem Klosterareal
gewidmet. Die Gedenktafel besagt, dass Hölderlin von 1784 bis 1786
als Seminarist eingeschrieben war.
Ein Auszug aus seinem Gedicht Die Heimath von 1797 steht
dort ebenfalls geschrieben:
"Ihr holden Ufer, die ihr mich auferzogt,
Stillt ihr der Liebe Leiden? ach! gebt ihr mir,
Ihr Wälder meiner Kindheit, wann ich
Komme, die Ruhe noch Einmal wieder?"
Im Herbst 1786Hölderlin zieht in das Kloster Maulbronn ein, wo er schon bald mit Luise Nast, der jüngsten Tochter des Klosterverwalters, bekannt gemacht wird. Als heranwachsender Klosterschüler und zukünftiger Pfarrer soll sich Hölderlin langsam aber sicher eine Braut suchen, was sich für Hölderlin jedoch als schwierig erweist. Hölderlin und Luise Nast mochten sich zwar schon, aber in Hölderlin kamen alsbald starke Zweifel auf, weil er sich nunmal kein Leben als Pfarrer und Familienvater vorstellen konnte, und schon gar nicht in so jungen Jahren. Ihn hat es vielmehr in die Welt gezogen, um sich von Land und Leute für seine Gedichte inspirieren zu lassen.
Hölderlin begann zu hadern und fragte Gott, ob dieser eingeschlagene
Weg tatsächlich der Wille seines Herrn sein sollte. Immer wieder
dachte er daran, aus dem Kloster auszutreten und wollte das mit der
Mutter besprechen, die ihn aber immerzu zum Bleiben überredete.
Luise bekam Hölderlins Missmut zu spüren, wofür er sich bei ihr
entschuldigte, weil es ja nicht an ihr lag. In der Zeit in Maulbronn
verfasste er für Luise ein paar liebe Gedichte, aber dennoch sträubte
er sich generell gegen den vorgezeichneten Weg.
Hölderlin machte zunächst gute Miene und ließ die Zeit für sich
arbeiten.
Anfang Dezember 2016 besuchte ich das Kloster Maulbronn mit seinem mittelalterlichen Weihnachtsmarkt. Einen Besuch ist Kloster Maulbronn als UNESCO-Weltkulturerbe immer wert. Das große Interesse von uns heutzutage hätte sich Friedrich Hölderlin zusammen mit Hermann Hesse (1877-1962) und Johannes Kepler (1571-1630) wohl nicht träumen lassen.
Im Juni 1788Hölderlin reist von Maulbronn über Bruchsal in die Pfalz nach Speyer und Oggersheim, wo sich 1782 Schiller, der daheim Schreibverbot hatte, in einem Gasthof versteckte. Hölderlin besucht die Porzellanmanufaktur in Frankenthal sowie Mannheim (meine Geburtsstadt) mit der Jesuitenkirche und dem großen Kaufhaus am Paradeplatz - Gebäude, die Hölderlin am meisten beeindrucken; Mannheim, wo er der Vorstellung 'Der Fähnrich' im alten Nationaltheater beiwohnt und sich das lokale Bier schmecken lässt. Im alten Nationaltheater wurde Schillers 'Die Räuber' 1782 uraufgeführt. Hölderlin wandelt also auf Schillers Spuren und empfindet diese Reise als sehr erhebend. Das Mannheimer Barockschloss ist Hölderlin zu protzig, aber die Jesuitenkirche mit den Gemälden und reichen Verzierungen im Innern bezeichnet er als würdevoll.
Der Dom zu Speyer ist das höchste und mächtigste Bauwerk, das
Hölderlin bislang besucht hat.
Hölderlin beobachtet sehr interessiert die geschäftigen Leute in
Lussheim bei Speyer, wie sie auf dem Rhein Schiffe beladen. Das Foto
zeigt den Dom von Baden-Württemberg aus gesehen. Aus einer ähnlichen
Perspektive in Lussheim dürfte sich der Dom Hölderlin aus der Ferne
präsentiert haben, als Hölderlin mit einem Boot über den Rhein auf
das linksrheinische Ufer nach Speyer übersetzt. Wenn ich mich recht
erinnere, kostete die Überfahrt 24 Kreuzer. Das Papier, worauf
Hölderlin seiner Mutter diese Reisekosten genau auflistete, ist im
Schiller Nationalmuseum Marbach zu sehen.
Auch war Charlotte von Kalb vom Dom sehr angetan, als sie mit Madame
de La Roche, die sie in Mannheim 1785 kennenlernte, zum Namenstag
dort den Gottesdienst besuchte.
Schwetzingen und die damals neue Brücke in Heidelberg gehören auch zu den Orten auf Hölderlins Reise. Besonders Heidelberg gefällt ihm und er verfasst sein berühmtes Gedicht 'Heidelberg', nennt die Stadt am Neckar "der Vaterlandsstädte Ländlichschönste". Auch von der Weite der Rheinebene mit Blick nach Frankreich ist Hölderlin genauso wie ich fasziniert.
Im Kloster Maulbronn und im Evangelischen Stift zu Tübingen wird
Hölderlins Lebensweg immer enger, steiler und steiniger, dennoch mit
Momenten der blühenden Hoffnung begleitet.
Die vorgezeichnete Laufbahn führt ihn in eine Richtung, der er sich
immer stärker entgegenstellt.
Was wird ihn am Ende erwarten?
Mit Luises Cousin Immanuel Nast pflegt Hölderlin eine gute
Freundschaft sowie auch mit dem Kunststudenten, dem angehenden Maler
Franz Carl Hiemer, dem wir das allseits bekannte Gemälde Hölderlins
verdanken, das Hölderlin seiner Schwester Heinrike zur Hochzeit mit
Pfarrer Breunlin schenkte. Das Original-Pastell Hölderlins befindet
sich heute im Schiller-Nationalmuseum in Marbach (siehe Foto), das
ich 2017 mit eigenen Augen bestaunen durfte. Da ich selbst seit
jeher gerne male und zeichne, sind mir die äußerst filigranen
Farbstriche Hiemers aufgefallen.
Desweiteren sah ich auch die Gemälde der Mutter Johanna, des Vaters
Heinrich Hölderlin, der Elisabeth Juliane Hölderlin und Theodor
Heussens. Franz Carl Hiemers Portrait war leider gerade ausgeliehen.
21. Oktober 1788 In Tübingen zieht
Hölderlin mit Hegel und Schelling ins Evangelische Stift und sie
beginnen ihr Studium. Anfangs wohnt Hölderlin mit bis zu sechs
weiteren Studenten in einem sehr zugigen Zimmer. Er beklagt sich bei
der Mutter und hofft, sie könne erwirken, dass Hölderlin in ein
wärmeres Winterquartier umziehen dürfte. Von 1790 bis 1793 teilt
sich Hölderlin dann mit Hegel und Schelling ein Zimmer im
Studentenwohnheim.
Als Hölderlin im Herbst 1788 sein Theologiestudium beginnt, soll er
sich im kommenden Frühling verloben. Hölderlins Verlobungsfeier mit
Luise findet bei Familie Benjamin Nast in Leonberg statt, doch kurz
danach macht Hölderlin im April 1789 ohne Vorwarnung Schluss. Er
schreibt Luise einen Brief zur Erklärung. Offiziell ist Luise mit
der Lösung des Eheversprechens einverstanden, hatte sie es wohl auch
schon kommen sehen.
Immanuel Nast beendet seine Freundschaft mit Hölderlin. Luise Nast heiratet wenig später einen anderen, was Hölderlins Mutter ihrem Sohn in einem Brief mit einem gewissen Vorwurf mitteilt. Hölderlin ist aber froh, dass der Kelch an ihm vorübergegangen ist. Die Heirat Luisens ist für Hölderlin vielmehr der Anlass, den bewussten Entschluss zu fassen, sich niemals verheiraten zu lassen. In seinen Büchern fände er genug Trost, wie er sagt.
Das Foto zeigt rechts die hohe Mauer des Tübinger Stifts. Der Weg führt hinunter zum Neckar, wo sich der Hölderlinturm befindet. Hölderlin ist auch diesen Weg wohl unzählige Male gegangen.
19. August 2020 Hölderlin musste
genauso wie seine Kommilitonen Hegel und Schelling im Evangelischen
Stift zu Tübingen damals jegliche Art von Annehmlichkeiten
entbehren. Alles war verboten, was Freude machte, wie
Schlittenfahren im Winter, Reiten im Sommer, Rauchen, Alkohol (außer
der üblen Tischwein-Plörre), selbst Kaffee oder schwarzen Tee zu
trinken war untersagt, weil auch diese Getränke zu anregend waren,
wie Adolf Beck Hölderlins Studienjahre beschrieb.
Natürlich hatten die Stiftler als angehende Pfarrer mit ihren
Verlobten auch keinen vorehelichen Sex, denn damals war die
Sittenlage höchst streng - das können sich heute manche Leute gar
nicht vorstellen.
Hölderlin wohnte also anfangs mit sechs weiteren Studenten in einem
Zimmer, wo es durch die Ritzen im Winter hereinschneite. Der
Hausmeister hatte auch nur dann die Fäkalien in den Gängen
zusammengekehrt, wenn es kaum noch ein Durchkommen gab und der
Gestank selbst für Hartgesottene zu groß wurde, wie man mir 2018 auf
der Hölderlin-Tagung im Evangelischen Stift erzählte.
Dagegen sieht Hölderlins ehemaliges Refugium bei seiner Pflegefamilie
im Turm heutzutage aus, als hätte er ein Luxus-Apartment an der
italienischen Riviera bewohnt. Für damalige Verhältnisse war seine
Wohnlage sicherlich privilegiert. Tübingen im Hochsommer erinnert
heute in der Tat an Italien, was mir auch ein Germanistik-Professor
aus Mailand erfreut bestätigte.
Doch zurück zu Hölderlins Dilemma mit seinem künftigen Beruf als
Pfarrer und den potenziellen Bräuten:
Nachdem Hölderlin die Verlobung mit Luise Nast gelöst hat, soll er
sich nun mit der Tübinger Universitätskanzlertochter Elise Lebret
verloben.
Hölderlin schreibt in seiner Zeit als Hauslehrer bei Bankier Jakob
Gontard aus Frankfurt seinem Bruder Karl nach Hause, dass er "nie
vorhatte, mit Elise eine engere Verbindung einzugehen". Seine
Beziehung zu Elise war eher oberflächlich. Er mochte sie wohl auch
nicht besonders, weil er oft Geringschätzung erdulden musste, wie er
schrieb.
Elise hatte sich mit einem anderen Mann verlobt und ihre Briefe an
ihren Ex-Freund Hölderlin zurückgefordert, die Hölderlin jedoch
verlegt hatte, weil sich bei ihm in den letzten zwei Jahren seines
Theologiestudiums bis zum Examen eine unbeschreibliche
Interessenlosigkeit sowie "Frivolität", d.h. Gleichgültigkeit und
Oberflächlichkeit, "in seinen Charakter eingeschlichen" haben, die er
von sich nicht kannte, war er doch sonst nicht so nachlässig und
gedankenlos. Karl Gok hatte also die unschöne Aufgabe, die Trennung
von Elise im Namen Hölderlins und der gesamten Familie der angesehenen
Familie Lebret zu erklären, wofür sich Hölderlin bei ihm vorab bedankt
und sagt, Karl werde schon die richtigen Worte finden, um Hölderlins
Verhalten zu entschuldigen.
Die deutsche Sprache des 18. Jahrhunderts
Als Lateiner und gebildeter Mensch verwendet Hölderlin in seinen
Briefen hin und wieder mal ein Wort lateinischen Ursprungs wie z.B.
Vakanz (lat. vacatio für Ferien/freie Zeit), kommod (lat. commodus
für bequem oder angemessen) oder eben Frivolität und frivol (lat.
frivolus für bedeutungslos oder albern).
Die sexuelle Konnotation des Wortes frivol, die heute im Sinne von
"schlüpfrig" stark verbreitet ist, hatte sich zu Hölderlins
Lebzeiten erst langsam in französischen Romanen entwickelt. Da
Hölderlin in seinem Evangelischen Stift, welches die zu lesenden
Bücher der Studenten streng kontrollierte, sicherlich keine
französischen Schundromane gelesen hatte, kannte er dieses Wort nur
im harmlosen Sinne lateinischen Ursprungs.
Autoren des 20. Jahrhunderts (u.a. Adolf Beck, Pierre Bertaux) reißen Hölderlins Frivolitäten jedoch gerne aus dem Zusammenhang des Textes, übersetzen sie im Sinne von schamloser Wollust, Triebhaftigkeit und Draufgängertum und führen sie als "Beweis" an, dass Hölderlin angeblich seinem Bruder Karl sein "dunkles Geheimnis" (uneheliches Kind) anvertraut hätte.
Hölderlin schreibt Karl diesen besagten Brief über die verlegten Briefe an Elise, als Hölderlin schon zwei Jahre als Hauslehrer im Hause Gontard angestellt war und seine heimliche Liebesbeziehung zu Susette genoss. Hölderlin wusste nämlich nicht auf Anhieb, ob er die Briefe Elisens nach Frankfurt mitgenommen hatte oder ob die Korrespondenz noch daheim in Nürtingen bei der Mutter in Verwahrung war. (Gr. StAg, 6-1, S. 264f) Nach einigem Suchen schrieb Hölderlin seinem Bruder, dass er die Briefe nicht bei sich habe, also müsse Karl zu Hause nachschauen. Hölderlins Briefe an seine ungeliebte Freundin Elise Lebret waren damals also frivolen Inhalts, d.h. voller belangloser Worte, also eigentlich nur Blablabla, wie wir heute sagen würden. Seine Briefe enthielten lediglich Höflichkeiten und Gefälligkeiten. Hölderlin wahrte die Form des gesellschaftlichen Umgangs und guten Benehmens. Er schrieb Elise Briefe, wie man eben so manche Briefe in der Welt schreibt, wie er seinem Freund Neuffer auf dessen Frage nach der "Tübinger Geschichte" (Elise) antwortete (Gr. StAg, 6-1, S. 153).
An die Mutter schrieb Hölderlin im Dezember 1794 aus Jena: "Ich
gesteh Ihnen, daß ich nach allem, wie ich sie [Elise Lebret]
beurteilen muß, nicht wünschen kann, ein engeres Verhältnis mit ihr
geknüpft zu haben, oder noch zu knüpfen. Ich schäze manche gute
Eigenschaft an ihr. Aber ich glaube nicht, daß wir zusammen taugten."
(Gr. StAg, 6-1, S. 145)
Später in Homburg, im September 1799, schrieb Hölderlin an die Mutter
zu Elisens Heirat: "Es freut mich, daß die gute Lebret einen so guten
Mann sich wählte, wie Ostertag ist. Sie wird glüklicher mit ihm seyn,
als sie es mit mir geworden wäre. Wir taugten nicht recht zusammen,
und es ist das traurige bei solchen jugendlichen Bekantschaften, daß
man sich erst kennenlernt, wenn man sich schon gegenseitig attachirt
hat. So sehr ich diß bei meinem lezten Aufenthalt in Wirtemberg
fühlte, so war ich doch, wie Sie selber wissen, fest gesonnen, nicht
leichtsinnig abzubrechen. Aber sie sah es selbst ein, sie mußte sich
auch wohl erinnern, daß sie mir noch in Tübingen Beweise genug gegeben
hatte, daß sie sich in mein Wesen nicht recht zu finden wußte, und daß
wir beede schon damals mehr aus einer gegenseitigen Gefälligkeit, als
aus wahrer Harmonie die Bekantschaft fortsezten. Überdiß wollte es
sich nicht recht zu meinem Lebensplan und zu den Umständen, unter
denen wir leben, schiken, daß ich so frühe Bräutigam seyn sollte. So
wie ich jezt mich und unsere Zeit kenne, halte ich es für
Nothwendigkeit, auf solches Glük, wer weiß, wie lange Verzicht zu
thun, und ich weiß aus Erfahrung, daß man auch ein Hagestolzenleben
mit Würde führen kann. Wenn ich auch Pfarrer würde, so würde ich, wenn
es anders nicht ganz gegen Ihre Wünsche wäre, lieber noch
unverheurathet leben, und wenn Sie sich zur Hausmutter entschließen
könnten, oder ich doch in Ihrer Nähe lebte, so wäre diß mir genug."
(Gr. StAg, 6-1, S. 362)
Ein Hagestolz ist eine veraltete Bezeichnung für einen alternden,
kauzigen, eingefleischten Junggesellen.
Hölderlin war Frauen gegenüber charmant und höflich. Natürlich
registrierte er, ob eine Frau schön und attraktiv war, und erwähnte
dies auch in seinen Briefen, wie im Falle der "holden Gestalt", bei
der alle rätseln, wen Hölderlin gemeint haben könnte. Das heißt aber
nicht, dass Hölderlin seine gute Erziehung und die strengen
Sittengesetze vergessen hätte. Frauen sollten seine Nettigkeiten und
höflichen Umgangsformen auch nicht überbewerten.
Als Hölderlin seine Hauslehrerstelle in Bordeaux antrat, ärgerte sich
Hölderlins Freund Christian Landauer über das hirnrissige Geschwätz
der Leute daheim in Stuttgart, die Hölderlin unterstellten, nur nach
Frankreich gegangen zu sein, um dort zügellose Sexabenteuer zu suchen.
Auch leben manche Roman-Autoren bis heute ihre sexuellen Fantasien
aus, wenn sie Hölderlins Reisen und Aufenthalte beschreiben. Aber das
nur am Rande bemerkt. Das alles hat mit der harschen Realität des
18./19. Jahrhunderts nichts zu tun.
Charlotte von Kalb schreibt in ihren Erinnerungen aus der Kindheit und
Jugend von Sommerfesten, wo sich viele Besucher einfanden, die ihr
nicht unbedingt gefielen (sie nicht "ergötzten") und sie sich gerne
von "Geschwätz und frivolen Zerstreuungen" in ihre Kammer zurückzog.
Mit "frivolen Zerstreuungen" sind auch bei Charlotte von Kalb
nicht wilde Sex-Orgien gemeint, sondern langweilige Unterhaltungen mit
vielleicht noch albernen Gesellschaftsspielen als Zeitvertreib.
Der französische König Ludwig XIV. wollte in seinem Schloss Versailles
auch keine "frivole Gartenanlage", nichts Gewöhnliches. Seine Gärten
sollten etwas aussagen, seine Herrlichkeit symbolisieren. Mir scheint,
als ob damals das gängige Wort 'frivol' das altmodische Wort für unser
heutiges 08/15 ist.
Hölderlins viel zitierte "Reizbarkeit" ("reizbares
Brüderchen") bedeutet nicht, dass Hölderlin beim Anblick von
Wilhelminens Figur plötzlich von einer wahnsinnigen sexuellen Begierde
erfüllt war. Er war ein Vernunftmensch und wurde nicht zu einem
willenlosen Opfer äußerer weiblicher Reize und innerer sexueller
Triebe, die er auch noch gleich brühwarm seiner Schwester und Mutter
und seinem kirchenstrengen Schwager, Pfarrer Breunlin, gesteht, wie
Kritiker Hölderlins Worte unsinnigerweise interpretieren.
Seine erste und zugleich äußerst anspruchsvolle Hauslehrertätigkeit im
Schloss Waltershausen war auch nicht der Beginn seiner angeblichen
Schizophrenie. Hölderlin war verständlicherweise vom Ungehorsam seines
aufmüpfigen und verstockten Zöglings Fritz von Kalb genervt, denn
Fritz stand als Sohn eines Freiherrn gesellschaftlich höher als der
kleine angestellte Hauslehrer Hölderlin. Also ließ sich der junge
adlige Fritz von Domestiken nichts vorschreiben, was ihm schon sein
arroganter Vater Freiherr Heinrich von Kalb vorlebte. Erziehung ist
eben Vorbild - gut wie schlecht. Das heißt auch, dass Fritz von Kalb
wohl das Onanieren als völlig in Ordnung empfand, weil er wie sein
Vater seine sexuellen Genüsse auslebte. Wenn in Hölderlins Umfeld
jemand seinen sexuellen Spaß in freien Zügen genoss, dann waren es
wohl unter den Adligen allgemein eben auch die Herrschaften von Kalb.
Das Wort "reizbar" bedeutet (u.a. laut Duden) zwar "erregbar", aber im
cholerischen und nicht im sexuellen Sinne. Ein reizbarer Mensch wie
Hölderlin es war, ist überempfindlich und daher leicht zu verärgern.
Hölderlin war, wie Charlotte von Kalb von ihm, aber auch von sich
selbst sagte, "ein Rad, das schnell läuft", d.h. dass Hölderlin auch
sehr ungeduldig, streng und fordernd sein konnte, besonders was
Benehmen und Umgangsformen sowie die schulischen Leistungen seines
Zöglings betraf. So ähnlich beschrieb sich Charlotte von Kalb selbst
und bedauerte, dass sie mit ihren jüngeren Schwestern manchmal
vielleicht etwas zu hart und unnachgiebig umging.
Hölderlin hatte jedenfalls einen aufbrausenden, hitzköpfigen
Charakter, den ich auch sehr gut von meinen nächsten Verwandten kenne!
Und so wie ich Hölderlin mittlerweile einschätze, würde er über solche
sprachlichen Fehlinterpretationen und Wort-Stümperei zu Recht nur noch
den Kopf schütteln.
Hölderlin schreibt seiner Schwester Heinrike, dass ihr bloß nicht
bange werden solle für ihr reizbares (cholerisches) Brüderchen, nur
weil er nach der geplatzten Verlobung mit Luise Nast und während des
aktuell gültigen "Verlobungsarrangements" der Familien Gok/Lebret
wegen Wilhelminens "interessanter Figur" leichtsinnig und fröhlich
herumalbert. Wenn Hölderlin als gut erzogener und höflicher
"Gentleman" Wilhelmine ein Kompliment macht oder über sie etwas Nettes
sagt, dann heißt das noch lange nicht, dass er in sie verliebt war
oder sie aus bloßer Vergnügungssucht "entehrte". Viele verstehen
Komplimente oft falsch bzw. interpretieren zuviel in Worte hinein. Im
Gegenteil, Hölderlin sah Wilhelmine wohl lediglich als eine von vielen
guten Freundinnen an und respektierte "vorzüglich" (besonders), dass
sie schon versprochen war (Gr. StAg, 6-1, S. 103ff). Anfangs nannte
Hölderlin seine Herrin Charlotte von Kalb auch eine gute Freundin, bis
er merkte, dass sie wohl etwas mehr von ihm wollte.
Heinrike solle ihm jedenfalls keine Vorwürfe machen, was ihn nur
verärgert hätte, sondern sich mal entspannen. Allerdings war das
natürlich nach Hölderlins Blamage wegen der gelösten Verlobung mit
Luise Nast für die gesamte Familie Gok/Hölderlin/Breunlin nicht ganz
einfach, gelassen zu reagieren.
Wenn Hölderlin tatsächlich ein Auge auf Wilhelmine geworfen und somit
riskiert hätte, sich ernsthaft in Schwierigkeiten zu bringen, d.h.
wegen Wilhelminens Schwangerschaft so schnell wie möglich heiraten zu
müssen, damit er nicht wegen vorehelichem Sex bzw. Unzucht laut
Sittengesetz öffentlich ausgepeitscht oder Wilhelmine aus
Waltershausen möglicherweise verjagt werden konnte, dann hätte er
seiner Familie erstmal gar nichts gesagt, um keine schlafenden Hunde
zu wecken. Als seine verbotene Liebe zur verheirateten Susette Gontard
erwachte, hatte er seiner Familie auch nichts gesagt, nur seinem
vertrauten Freund Neuffer anvertraut, dass Susette ein Engel sei und
er [Hölderlin] sich in einer neuen Welt befände.
Der Mutter hätte es aber sehr wohl gefallen, wenn Hölderlin Vater und
durch eine Heirat sesshaft geworden wäre, weil er ein anständiges Weib
am Herd an seiner Seite gehabt hätte. Als Witwe war Wilhelmine absolut
gesellschaftsfähig, jedenfalls eine bessere Partie als eine
geschiedene Frau (wie die Frau seines Schulfreundes Schelling) und
nicht beschämend wie eine heimliche, verbotene Liäson mit einer
verheirateten Frau (Bankiersgattin Susette Gontard).
Daher verstehe ich das Argument von Pierre Bertaux überhaupt nicht,
warum Hölderlin angeblich nicht der Vater von Wilhelminens Kind sein
"durfte". Die Kirche hätte Hölderlin öffentlich angeprangert und ihn
zur väterlichen Verantwortung und Verheiratung gezwungen. Auch ist die
Behauptung von Pierre Bertaux falsch, dass Hölderlin nur wegen
Wilhelminens Schwangerschaft und erst nach Auflösung seines
Dienstverhältnisses im Dezember nach Jena gegangen sein soll.
Charlotte von Kalb hatte Hölderlin nicht wegen Unzucht rausgeworfen,
sondern Hölderlin hatte von selbst gekündigt, weil ihm sein Zögling
den letzten Nerv raubte und er sich in Ruhe auf seine Dichtung
konzentrieren wollte.
Das Studium in Jena und die Zusammenarbeit mit Schiller war von langer
Hand geplant. Hölderlin erwähnte schon im Frühjar 1794, dass er im
Herbst mit seinem Zögling Fritz nach Jena gehen wolle. Im Oktober 1794
schrieb Hölderlin seinem Freund Neuffer, dass er ab November in Jena
Vorlesungen an der Uni besuchen werde. Anfang November schrieb
Hölderlin tatsächlich aus Jena und teilte Neuffer seine neue Adresse
mit (Gr. StAg, 6-1, S. 138).
Das Foto zeigt die St. Georgskirche in Waltershausen. Dahinter
befindet sich das Schloss der Familie von Kalb.
Wenn Hölderlin der Vater gewesen wäre, dann hätten er und
Wilhelmine, sobald sie wusste oder ahnte, dass sie schwanger war,
sich noch mithilfe der Herrschaften von Kalb als Trauzeugen gleich
nebenan in der Kapelle im Grabfeld auf Schloss Waltershausen bei
Nacht und Nebel schnell vom Dorfpfarrer Nenninger trauen lassen
können, ohne dass jemand in Waltershausen/Meiningen eine uneheliche
Schwangerschaft überhaupt bemerkt hätte, die sonst hätte angezeigt
werden können.
Das Ehepaar von Kalb hätte sich sonst dann auch der Kuppelei
öffentlich schuldig gemacht. Wilhelmine in eine neue Stelle bei
Fremden zu schicken, hätte das Schwangerschaftsproblem nicht gelöst.
Fremde Familien hätten keine schwangere Single-Frau eingestellt, wie
Pierre Bertaux glaubte, denn sonst wären die Sittenwächter gleich
vor der Tür gestanden.
Charlotte von Kalb hatte Hölderlin mit Wilhelminens angeblich neuer
Stelle in Meiningen angelogen, damit niemand die heimliche Geburt des
unehelichen Kindes in Weimar mit Wilhelmine in Verbindung bringt. Da
Hölderlin ja auch gar nicht der Vater war, gab es deshalb keinen
Grund, Hölderlin einzuweihen.
Der Vater des Kindes der Wilhelmine Kirms kann nur Freiherr Heinrich
von Kalb persönlich sein. Laut Taufbucheintrag im Kirchenregister zu
Weimar wurde Freiherr von Kalb am 12. Juni 1795 als Vater einer
Tochter eingetragen, also in dem besagten Zeitraum, als Wilhelmine
Kirms niedergekommen sein musste. Wäre Hölderlin der Vater, dann hätte
der Major nicht das Kind seiner Domestiken in seinen Stammbaum als
sein eigenes Fleisch und Blut aufgenommen. Es steht auch nirgendwo
geschrieben, dass Charlotte von Kalb zeitgleich mit Wilhelmine
schwanger gewesen wäre. Das Ehepaar von Kalb hatte alle Hände voll zu
tun, verräterische Spuren der adligen Schande zu verwischen.
Wilhelmine mochte Hölderlin als Mensch und guten Freund sicherlich
auch gerne, aber sie hätte niemals ihre Chance vertan, als Mätresse
und Mutter der Kinder eines adligen Herren ihren gesellschaftlichen
Aufstieg zu gefährden - wie ihre Mutter ihr bereits vorgemacht hatte,
wie man als Webersfrau zur Baronin werden kann.
Allerdings muss ich sagen, dass sich Hölderlin seine recht unbedachte
Bemerkung im Brief an seine gesamte Familie hätte sparen können, vor
allem, wenn er damals geahnt hätte, dass seine Äußerung einen ganzen
Rattenschwanz an Verleumdern in den Medien des 20./21. Jahrhunderts
zur Folge hat, der auch noch seine Mutter Johanna in den Dreck zieht,
weil man ihr ebenfalls unterstellt, heute nicht vorhandene "erotische"
Briefe zwischen Wilhelmine und Hölderlin von damals als "Beweise"
vernichtet zu haben - Briefe, die aber niemals existiert haben!
Hölderlin hatte keinen Briefwechsel mit Wilhelmine. Wozu auch? Autoren
geht wirklich die Fantasie durch! Hölderlin hat vielleicht durch sein
gutes Aussehen und sein Charisma wohl eben auch die Fantasie der
Menschen beflügelt, aber dennoch handelt es sich hier um einen
klassischen Fall von Rufschädigung und Diffamierung Hölderlins und
seiner Mutter Johanna.
Ich kann gut verstehen, dass sich Hölderlin selbst, aber auch seine
Eltern und weitere Ahnen heutzutage deswegen im Grabe herumdrehen.
A propos uneheliches Kind:
Hölderlin schrieb im 'Hyperion' der 'Diotima' die Worte zu: "Ich will
auch keine Kinder. Ich gönne sie nicht der Sklavenwelt."
Seiner Schwester Heinrike schrieb Hölderlin, dass er viel klüger wäre,
seit er Hofmeister sei und Wilhelmine "noch zehnmal klüger" als er.
Logisch, Wilhelmine hatte schon eine Zwangsehe mit einem alten reichen
Mann hinter sich und dahingehend mehr Lebenserfahrung als Hölderlin.
Wilhelmine musste sich auf Anordnung ihrer schlechten Mutter beim
Major von Kalb in den Adelsstand hochschlafen, d.h. sie war
gewissermaßen "versprochen", besser gesagt verpflichtet, die
Nachkommen des Freiherrn auszutragen. Solche Arrangements zwischen
adligen/nichtadligen Familien waren damals bei Adligen üblich.
Besonders Wilhelminens Familie mütterlicherseits hatte dadurch einige
Vorteile.
Hölderlin hatte Wilhelmine als eine wohlmeinende Gleichgesinnte sehr
geschätzt, also als eine Freundin im wahrsten Sinne des Wortes, die er
ungerne verlor, wie er sagte. Nach zwei abgelehnten Verlobten hatte
Hölderlin von den Weibern als potenzielle Bräute die Nase erstmal
gestrichen voll. "In Jena lassen mich die Weiber eiskalt", wie
Hölderlin schrieb.
Er wollte sich endlich voll und ganz auf das Schreiben konzentrieren
und als Dichter mit Schillers und Cottas Hilfe seine Texte
veröffentlichen.
Falsche Textinterpretationen (z.B. bei Pierre Bertaux) kommen auch
vor, da die deutsche Sprache des 18. Jahrhunderts selbst für deutsche
Muttersprachler im 21. Jahrhundert manchmal schwer zu verstehen und
daher etwas gewöhnungsbedürftig ist. Beispielsweise schreibt Susette
Gontard Hölderlin in einem Brief, sie habe ihm "Schwachheiten
entdeckt", d.h. sie hat ihm ihre Schwäche (die Eifersucht auf
Charlotte von Kalb) offenbart, die "vor dem hohen Ideal der Liebe zu
verdammen" sei, sonst aber "Schonung verdiene". "Du verstehst mich!" -
Susette bittet Hölderlin also, er möge ihr ein so hässliches Gefühl
wie Eifersucht als menschliche Schwäche nachsehen, weil sie ihn doch
so sehr liebt.
Auch hier wird der Brief Susettens oftmals sinnentstellt, weil z.B.
Pierre Bertaux das Wort "an" hinzufügt und Susette mit den Worten
zitiert "Ich habe an dir Schwachheiten entdeckt", was Bertaux auch als
weiteren "Beweis" des "dunklen Geheimnisses" anführt.
Nein, Susette hat nicht an Hölderlin irgendwelche Schwächen
(draufgängerisches und unanständiges Verhalten) entdeckt. Autoren des
20. Jahrhunderts unterstellen Hölderlin das uneheliche Kind und somit
Verantwortungslosigkeit, Bigotterie, Unredlichkeit und Heuchelei.
Das Wort "entdecken" im Sinne von "mitteilen" benutzten auch
andere. Charlotte von Kalb schreibt in ihren Erinnerungen, dass man
ihr nicht gleich die genauen Umstände zum qualvollen Tod ihres lieben
Bruders "entdeckte" = sagte/mitteilte.
Wenn Hölderlin, Susette und andere Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts
von Freund oder Freundin sprechen, ist der Begriff im
18. Jahrhundert nicht in dem Sinne zu verstehen, wie Jugendliche ihn
hauptsächlich heute im 21. Jahrhundert verstehen. Freund oder Freundin
waren im 18. Jahrhundert in erster Linie Menschen, die einem
wohlwollend waren, mit denen man sich gut verstand - also keine
Feinde, sondern Freunde im wahrsten Sinne des Wortes. "Tausend
Empfehlungen an meine edlen Freundinnen und Freunde ! Ewig Euer
Hölderlin" (Gr. StAg, 6-1, S. 101), schreibt Hölderlin seinen Freunden
Stäudlin und Neuffer.
Hölderlin bezeichnete Wilhelmine sowie Elise Lebret als eine Freundin.
Mit seinen Verlobten Luise Nast und Elise Lebret hatte Hölderlin auch
keinen vorehelichen Sex. Diese Verbindungen waren Arrangements unter
den Familien und der Kirche. Ich weiß nicht, wie die Kirche und die
Familien darauf reagiert hätten, wenn sich Hölderlin dahingehend
daneben benommen und Louise oder Elise "entehrt" hätte. Solche
Vermutungen der Kritiker sind daher völlig abwegig und die Begriffe
"Liebesbeziehung" und "Verhältnis", die Sex implizieren, sind im
Zusammenhang mit Hölderlins Verlobungen sprachlich irreführend bzw.
schlichtweg falsch.
Auch mit Charlotte und dem Major von Kalb verband ihn eine
Freundschaft wie er anfangs schrieb. Einzig Susette Gontard war eine
Frau (Weib), mit der Hölderlin eine (heimliche) Liebesbeziehung hatte.
Handelte es sich um Frauen, die sich allein versorgen mussten (z.B.
Gouvernanten), oder wenn es sich um eine Ehe oder ein sexuelles,
eheähnliches Verhältnis handelte, dann wurden die Frauen damals
meistens als Weib bezeichnet. Hölderlins Freunde sagten, dass
Hölderlin ein Weib (Susette) in Frankfurt hatte. In keinen Briefen der
Freunde Hölderlins las ich bisher, dass Hölderlin ein Weib in
Waltershausen/Meiningen oder Weimar/Jena gehabt hätte oder sogar
heimlich Vater geworden wäre.
Hölderlin bezeichnete die Gesellschafterin Wilhelmine Kirms als "ein
verständiges, gutes und festes Weib". Damit meinte er einfach nur,
dass Wilhelmine mit ihrer Bildung, ihrem wohl kräftigen Körperbau und
gesunden Verfassung durchaus in der Lage sei, auch ohne die
finanzielle Hilfe ihrer schlechten Mutter oder das Erbe ihres
verstorbenen Mannes im Leben ihren Mann zu stehen.
Bisher machte sich allein Ernst Schwendler als Bekannter der Charlotte
von Kalb und der Meininger Gesellschaft wichtig, indem er vielsagend
nicht viel sagte, nämlich nur, dass er von Hölderlin und "der Kirms"
(Wilhelmine) etwas wüsste. Wenn Schwendlers Andeutungen wahr gewesen
wären, dann wäre es wohl nicht bei einem Gerücht geblieben. Hölderlin
hätte durch eine Anzeige laut Sittengesetz, das u.a. in Waltershausen
und Weimar galt, wegen Unzucht öffentlich an den Pranger gestellt
werden können. Dann wäre auch seine Vaterschaft im Kirchenbuch mit
einem Tadel niedergeschrieben (wie bei den drei unehelichen Kindern
des Freiherrn von Kalb mit seiner Köchin) und Hölderlin für zwei
Wochen als Strafe zunächst ins Gefängnis gesteckt worden.
Fakt ist aber, dass Hölderlin ungehindert seiner Wege von
Waltershausen/Meiningen bis nach Weimar/Jena gehen konnte ... und
wieder zurück nach Hause. Man stellt das Wort und die Glaubwürdigkeit
Schwendlers über das Wort und die Glaubwürdigkeit Hölderlins - ohne
weitere eingehende Prüfung.
Mehr zu den Kirchenbucheinträgen der unehelichen Tochter der
Wilhelmine Kirms im Abschnitt 28. Dezember 1793
- Schloss Waltershausen
1788 bilden die Stiftler Friedrich Hölderlin, Christian Ludwig Neuffer
und Rudolf Friedrich Heinrich Magenau einen Dichterbund. 1792 erzählt
Hölderlin Magenau von seinem Plan, den 'Hyperion' zu schreiben, wozu
Magenau ihn noch ermuntert. Gotthold Friedrich Stäudlin, der Hölderlin
entdeckt und fördert, veröffentlicht in seinem Musenalmanach des
Jahres 1792 erstmals vier Gedichte Hölderlins. Im September 1793 lobt
Stäudlin Hölderlins 'Hyperion' und bezeugt "die schöne Sprache" und
"das Lebendige der Darstellung". 1793 lernt Hölderlin auch den
Jura-Studenten Isaac von Sinclair kennen, mit dem er 1795 kurze Zeit
in Jena und nach dem Tod Susettens in Homburg wohnen wird (aus: Adolf
Becks Hölderlin - Chronik seines Lebens).
Das Foto zeigt das Wohnhaus des Verlegers Johann Friedrich Cotta
(ab 1822 Freiherr von Cotta) im Stadtkern Tübingens, in dem laut
einer Gedenktafel an der Hauswand Goethe vom 07. bis zum 16.
September 1797 zu Gast war.
1797 druckte Cotta Hölderlins kompletten Briefroman 'Hyperion oder
der Eremit in Griechenland'.
Auf der Stuttgarter Antiquariatsmesse durfte ich eine Erstausgabe in
Händen halten, welche mittlerweile im unteren fünfstelligen Bereich
gehandelt wird. Meiner Ansicht nach gehören solche Schätze in ein
Museum, das beste Lagerungsbedingungen hat, um das Papier vor dem
Zerfall zu retten.
1793 berichtet Stäudlin Schiller von Hölderlins Schreibtalent und empfiehlt ihm, Hölderlin unter seine Fittiche zu nehmen. Daraufhin schlägt Schiller der Freifrau Charlotte von Kalb (Schillers Ex-Geliebte) aus dem fränkischen Waltershausen bei Meiningen Hölderlin mit gewissen Vorbehalten vor, als sie für ihren neunjährigen Sohn Fritz einen Privatlehrer (veraltet: Hofmeister) sucht. Schiller, der durch eine Intrige des Freiherrn von Kalb dessen Ehefrau Charlotte von Kalb als ihr früherer Liebhaber wegen Charlotte von Lengefeld schnöde sitzenließ, hat bei Charlotte von Kalb wohl noch etwas gut zu machen. Schiller schwärmt Charlotte vor, dass ihr Hölderlins "Äußeres sicher gefallen" werde, wie Adolf Beck es in seinem Buch beschrieb.
Das Foto zeigt das alte Bamberger Rathaus.
Am 26. Dezember 1793 schreibt Hölderlin seiner Mutter aus Coburg,
als er auf dem Wege von Stuttgart nach Waltershausen war, um seine
erste Hofmeisterstelle bei den Herrschaften von Kalb anzutreten.
Wegen des streckenweise schlechten Weges war er etwas verspätet.
Seine Reisekosten erstatteten ihm die Herrschaften von Kalb, was
Hölderlin seiner Mutter gleich nach seiner Ankunft mitteilte.
Am 30. Dezember 1793 beschreibt Hölderlin seinen Freunden Stäudlin
und Neuffer seine Reiseroute per Postwagen: "Über meine Reise von
Stuttgart bis Nürnberg kann ich euch nichts sagen. Ich schloß meist
die Augen, und ließ euch, und was mir sonst lieb ist, vor mir
erscheinen.
In Nürnberg lebt' ich auf. Mit HE. Ludwig wurd ein rechtes gespaßt,
und getumultuirt. Zum Journal will er nur wenig beitragen, weil ihm
seine Englischen Blätter so viel zu schaffen machen. Er verspricht,
einen Verleger für das Journal aufzubringen, wenn er wie er sich
ausdrükte, eine recht beträchtliche Anzal von Mitarbeitern aufweisen
können werde. Sein Mund ist leibhaftig die Posaune des Egoismus.
Übrigens war ich, wie gesagt, recht vergnügt mit ihm. Dienstags (denn
Sonntags kam ich in Nürnberg an) fuhr ich nach Erlang hinüber und
feierte da den Christtag in der Universitätskirche, wo Prof. Ammon
eine herrliche schön und hell gedachte Predigt hielt, womit er
wenigstens zehen Scheiterhaufen und Anathema's verdiente. Mittwoch
Abends reist' ich wieder von Erlangen ab, kam spät nach Mitternacht in
Bamberg an, auf einem verdamt kalten und unsichem Wege, wo man uns
wegen den Diebsbanden in den Wäldern einen Husaren entgegenschikte.
Von Bamberg bis Koburg, wo ich Donnerstag Abends ankam, hatt' ich den
ganzen Tag über das himmlische Thal, das von der Ize durchflössen
wird, vor und hinter mir. (Im Vorbeigehen! in ganz Franken bemerkt'
ich zu meinem großen Verdrusse, wie ihr denken könnt, laute
Unzufriedenheit mit der woltätigen preußischen Regierung […] In Koburg
reist ich Freitag Morgens um 3 Uhr mit Extrapost ab, und kam Abends
hier an, traff an HE. Major von Kalb, (der in französischen Diensten
war, und unter Lafaiette den Amerikanischen Krieg mitmachte,) den
humansten gebildetsten Mann, eine Freundin [Wilhelmine] der Frau von
K. [Charlotte], die noch mit zwei Kindern [Edda und der im Oktober
1793 geborene August Wilhelm] in Jena ist, meinen künftigen Zögling
[Fritz], einen schönen guten Buben, aber auch noch den Hofmeister an,
der, wie das ganze Haus, noch kein Wort von meiner Ankunft wußte, und
mich ungeachtet seines klugen edlen Benehmens in große Verlegenheit
sezte. Sprechen Sie doch mit Schiller über dieses, lieber Doktor ! Der
Major tröstet mich so gut er kann über die gespannte Lage." (Gr. StAg,
6-1, S. 100f)
Wilhelmine hatte Charlotte von Kalb nach deren schweren Geburt mit
ihrem Sohn August Wilhelm nicht in Jena weiterhin beigestanden und
dort die Tochter Edda betreut, sondern blieb beim Major von Kalb in
Waltershausen mit dem Rest der Dienerschaft. Wilhelmine scheint von
Beginn an wegen des außerehelichen Arrangements mit dem Freiherrn von
Kalb nach Waltershausen gekommen zu sein.
Das Foto zeigt den Marktplatz von Bad Königshofen mit dem Rathaus
links.
Hölderlin hatte in seiner Zeit als Hofmeister im Schloss
Waltershausen auch dieses schöne Städtchen auf eigene Faust
erkundet. Immer wieder hatte er sich eine kleine Auszeit genommen.
Er wanderte gerne allein durch die Landschaft, oftmals nach Römhild,
um mit sich allein und "unabhängig von der Welt" zu sein, wie er
schrieb.
Hölderlin kommt im Schloss Waltershausen an, was die Schlossbewohner
zunächst verwundert. Die Schlossherrin und Gattin des Freiherrn
Heinrich von Kalb, Charlotte von Kalb, die im Oktober 1793 ihr viertes
Kind, ihren zweiten Sohn August Wilhelm, in Jena gebar, kam erst im
März 1794 wieder zurück ins Schloss. Die Geburt war mit großen
Komplikationen verlaufen, daher brauchte sie ein halbes Jahr für ihre
Genesung und hatte Hölderlin als neuen Hauslehrer für ihren
neunjährigen Sohn Fritz nicht im Schloss ankündigen können.
Der arbeitslose Schlossherr Heinrich von Kalb, ehemals Major im
französischen Fremdenregiment Zweibrücken (Königliches
Infanterieregiment Zweibrücken - Régiment Royal Deux Ponts), weilt mit
der Lausitzer Gesellschafterin Wilhelmine Kirms und den anderen
Bediensteten daheim im Schloss und langweilt sich, seit er im Zuge der
Französischen Revolution als deutscher Adliger vor den Jakobinern
fliehen musste, die ihm vorwarfen, dem französischen König 1791 zur
Flucht verholfen zu haben. Das deutsche Regiment hatte Von Kalb auch
nicht mehr verpflichtet, sodass er vom Familienvermögen seiner Frau
Charlotte leben muss und genug Zeit hat, mit Hölderlin unbedingt auf
die Jagd gehen zu wollen, um ihm das Schießen beizubringen. Hölderlin
ist davon weniger begeistert und froh, dass er bislang noch nicht
einmal einen Hasen geschossen hat.
Das Ehepaar Heinrich und Charlotte von Kalb (gebürtige Marschalk von
Ostheim) war wie viele Adlige nicht aus Liebe, sondern aus
dynastischen und finanziellen Gründen verheiratet worden. Charlotte
wurde schon im Kindesalter zur Vollwaise und blieb immer ungeliebt,
weil sie "nur" ein Mädchen war, deshalb ist es für sie traurig, dass
sie letztlich auch von ihren Liebhabern nicht geliebt wurde. Ihr
größter Schmerz war, dass Schiller, die Liebe ihres Lebens, sie
verschmähte und wie der Dichter Jean Paul eine andere heiratete. Durch
eine Intrige entfernte sich Schiller von Charlotte. Bedienstete hatten
in Weimar einen Liebesbrief Schillers an Charlotte entwendet. Freiherr
Heinrich von Kalb schrieb Schiller, dass er sich von Charlotte
fernhalten solle. Charlotte würde sich niemals von ihrer Familie
trennen, wie Schiller an Körner schrieb.
Hölderlin hatte sich Charlotte von Kalb von vornherein verweigert, was
Charlotte bedauerte, da sie sich mit ihm seelenverwandt fühlte und
Hölderlins 'Hyperion' als Inspiration für ihre Werke ansah, wie Emil
Palleske 1879 schrieb.
Es war von jeher üblich, dass sich die adligen Herren das Privileg
herausnahmen, sich ihre außerehelichen Liebschaften zu gönnen. Mit dem
Verstreuen ihres Samens sicherten die Adligen ihre politische Macht
und ihren gesellschaftlichen Einfluss. Es war also geradezu erwünscht,
möglichst viele Kinder (eheliche und uneheliche) in die Welt zu
setzen, auch weil die Kindersterblichkeit hoch war und selbst die
Mütter oftmals das Wochenbett nicht überlebten. Die Kinder der
Mätressen wohnten meistens bei ihren Müttern im Haushalt der
Herrschaften und konnten dann für Posten innerhalb der Herrschaft
besetzt bzw. sogar in den Adelsstand erhoben werden.
Freiherr Heinrich von Kalb war da keine Ausnahme. Laut Ursula Naumann
war Von Kalb bekannt für seine "noblen Passionen". Offensichtlich
vergnügte er sich u.a. auch mit seinen Bediensteten (wohl mit der
Ratswitwe Wilhelmine Marianne Kirms und der Lehrerstochter Anna
Barbara Todt), gestand jedoch seiner Frau Charlotte ebenfalls ihre
Liebhaber zu, sodass sich beide in ihrer Ehe zunächst ganz gut
arrangierten, wie es mir heute erscheint.
Da im 18. Jahrhundert die Sittenlage sehr streng war, konnten sich die
Adligen (je nach Ranghöhe) mehr oder minder offiziell Nebenfrauen bzw.
Nebenmänner leisten. Für die einfache Bevölkerung galten äußerst
strenge Sittengesetze, besonders in Sachsen-Weimar wie Helmut Wurm in
seinem Manuskript über Goethe eindrucksvoll beschreibt, auch um
Geschlechtskrankheiten beim Gesinde einzudämmen, d.h. dass
vorehelicher Sex selbst unter Verlobten sowie unehelicher Sex nicht
selten mit Pranger, Gefängnis sowie Geld- und Kirchenbuße bestraft
wurde.
Als ich 2018 das Schloss Waltershausen besuchte, zeigte mir der
Schlosseigentümer Herr Dr. Möbius eine Tür, die in den Kerker führte,
und erzählte, dass früher die Delinquenten dort einsaßen und auf ihren
Prozess warteten. Sie wurden dann zum Gericht nach Bad Königshofen
überstellt. Auf Mord stand die Todesstrafe.
In Waltershausen wurde ein Ehebruch also mit Gefängnis und
öffentlichem Auspeitschen am Pranger bestraft. Der Kreisheimat- und
Archivpfleger Reinhold Albert beschrieb 2007 einen Fall von Ehebruch
in Waltershausen im 17. Jahrhundert. Die Schlossmagd wurde aus dem
Dorf Waltershausen getrieben und der Ehebrecher landete nach seiner
Gefängnisstrafe am Pranger mit 60 Peitschenhieben an zwei
verschiedenen Tagen. Seine anschließende Kirchenbuße wurde dann in den
Kirchenbüchern vermerkt.
Die Kirchenbücher sind streng nach ehelichen und unehelichen Geburten
getrennt. In den Kirchenbüchern mit den unehelichen Geburten datiert
auf Anfang des 19. Jahrhunderts kamen dann auch die drei illegitimen
Kinder der Schlossköchin Anna Barbara Todt mit Freiherr Heinrich von
Kalb zum Vorschein, wie Reinhold Albert überrascht feststellte.
Charlotte von Kalb hatte sich bereits von ihrem Mann getrennt, sodass
Heinrich von Kalb in einem eheähnlichen Verhältnis mit seiner Köchin
lebte, was wohl zunächst geduldet wurde, später wohl eher nicht mehr,
weshalb sich der Major auch deswegen erschoss. Da Von Kalb adlig war,
könnte es gut möglich sein, dass er eher nicht an den Pranger kam,
sondern wohl mit einer großzügigen "Geldspende" für die Kirche (quasi
mit einer Geldstrafe) seinen adligen Kopf aus der Schlinge ziehen
konnte.
Insgesamt hatte Freiherr Heinrich von Kalb wohl mindestens 7 Kinder (3
eheliche und 4 uneheliche), von denen wir heute zumindest wissen. Wer
weiß schon, was er sonst auf seinen Feldzügen durch Amerika oder im
Zuge seiner Tätigkeit als Offizier in seiner französischen Garnison im
Pfälzischen Landau noch für Geheimnisse mit sich herumschleppte, die
ihn letztlich zum Suizid veranlassten.
Hölderlin hatte von Wilhelminens Schwangerschaft wohl eher nichts
mitbekommen. Hätte er das uneheliche Kind mit ihr, dann wären er und
Wilhelmine wegen Unzucht zur Rechenschaft gezogen worden, denn ein
Säugling ("Corpus Delicti") verschwindet nicht einfach, nur weil
Hölderlin seiner Wege gegangen war. Hölderlin hätte nach seiner Strafe
und Kirchenbuße Wilhelmine heiraten müssen, was dann auch mit einem
entsprechenden Tadel im Kirchenbuch vermerkt gewesen wäre - nach
langem Suchen haben wir bis jetzt aber keinen Kirchenbucheintrag
gefunden, der besagt, dass unser Vorfahre Friedrich Hölderlin Vater
einer Tochter wäre.
Hölderlin war zudem ja auch nicht dumm. Er kannte doch das Leben und
die Sitten im 18. Jahrhundert. Er war gut erzogen und ein ernster,
frommer und gewissenhafter Mensch, der die arme Wilhelmine aus bloßer
Vergnügungssucht nicht einfach ihrem Schicksal überlassen hätte, wie
Kritiker heute behaupten. Auch die Behauptung, sein Job in
Waltershausen sei der Beginn seiner angeblichen Schizophrenie nach dem
Motto, Hölderlin wüsste nicht, was er tut, ist demnach bis jetzt
völlig haltlos.
Hölderlin hätte es mit seiner ersten Verlobten, Luise Nast, sehr viel
einfacher haben können, wenn er bloß auf sein sexuelles Vergnügen
bedacht gewesen wäre, denn er hätte sich gleich nach seinem Studium
verheiraten lassen können.
Hölderlin wollte aber nicht heiraten und hatte sich daher auch nichts
vorzuwerfen. Überdies hätte er seiner Mutter Johanna Gok, die dem
Pfarradel und Stand der Ehrbarkeit angehörte, diesbezüglich keine
Schande gemacht.
Der Major von Kalb hatte hingegen keinerlei Skrupel, was sein
Vergnügen betraf. Er hätte sogar seiner Frau Charlotte ihren lieben
Sohn Fritz weggenommen, wenn sie diese Farce von einer Ehe schon
früher beendet hätte, als Fritz erst ein paar Jahre alt war - was sie
aber ab dem Jahr 1800 dann doch tat, als Anna Barbara Todt den ersten
unehelichen Sohn gebar und Fritz von Kalb dann schon 16 Jahre alt und
auf dem besten Wege war, wie sein Vater eine militärische Laufbahn
einzuschlagen. Fritz machte schließlich Karriere als Ulanenrittmeister
in Düsseldorf (Palleske, 1879).
Die strengen Sittengesetze galten in Waltershausen noch bis Ende des
19. Jahrhunderts, wie Reinhold Albert in seinem Vortrag sagte.
Frühere Generationen hatten ziemlich erfolgreich versucht, die
schändliche Wahrheit über die Nachkommen des Freiherrn von Kalb in den
Waltershäuser Katakomben unter Verschluss zu halten. Dennoch scheint
sich die Wahrheit selbst über Jahrhunderte hinweg früher oder später
wieder ans Tageslicht zu drängen. Verständlich, wenn Reinhold Albert
über diesen Fund überrascht gewesen sein sollte.
Kann ich verstehen, denn ich war ebenso überrascht, als ich ein heute
rares, originales Buch von Emil Palleske mit der urkundlichen
Abschrift der Geburt der Tochter des Freiherrn Heinrich von Kalb in
Weimar in Händen hielt. Die Kirchenbucheinträge decken sich mit den
urkundlichen Abschriften, die der Verein für Heimatgeschichte im
Grabfeld und das Museumspädagogische Zentrum Bad Königshofen im
Grabfeld unter Reinhold Albert in den Heimatblättern herausgab.
Wenn sich Hölderlin mit Wilhelmine in Schwierigkeiten gebracht hätte,
dann hätte Reinhold Albert spätestens beim Durchsehen der
Kirchenbücher aus dem Grabfeld kompromittierende Einträge finden
müssen. Adolf Beck hatte ebenso nichts über Hölderlin in Meiningen
gefunden, daher muss man nach wie vor von einem Gerücht und der
Verleumdung Hölderlins ausgehen.
1879 veröffentlichte der Schriftsteller Emil Palleske die
Gedenkblätter der Charlotte von Kalb mit vielen weiteren interessanten
Kirchenbucheinträgen ihrer Familie Marschalk von Ostheim. Die Tochter,
die zur besagten Zeit der Niederkunft der Wilhelmine Kirms dann im
Juli, wenige Wochen alt, von Herder als verstorben eingetragen wurde,
ist genau der Versuch, die uneheliche Tochter des Majors von Kalb und
"der Kirms" zu vertuschen.
Das Foto zeigt das Schloss Waltershausen im fränkischen Saal a.d.
Saale unweit der thüringischen Landesgrenze und der Stadt Meiningen.
Im September 2018 hatten mich die Schlosseigentümer
freundlicherweise durch das Schloss, die Privaträume und den großen
Garten geführt.
Auch Hölderlins Zimmer in einem der Schlosstürme (Foto) mit Blick
über die Baumwipfel nach Thüringen wurde mir gezeigt.
Hölderlin schrieb, dass er ein sehr schönes Zimmer hätte. Ja, ich
finde auch, dass es eigentlich sogar das schönste und gemütlichste
Zimmer im Schloss ist, das meine kreative Ader auch gleich
angesprochen hat.
So kann ich mir gut vorstellen, dass Hölderlin anfangs eine gute
Aura hatte, um am 'Hyperion' weiterzuschreiben. Wäre da nur nicht
die ganze Unbill mit seinem Zögling Fritz gewesen, die Hölderlin
seine Lust zu dichten beinahe völlig vergällt hatte, sodass er nach
einem Jahr kündigte.
Der Ortsteil Waltershausen liegt in einer sehr ländlichen Gegend
wie man auf dem Foto sieht und kann leicht mit Waltershausen bei
Gotha verwechselt werden.
"Das Schloß liegt über dem Dorfe auf dem Berge, und ich habe eines
der angenemsten Zimmer. Auch sind die Menschen hier, so viel ich sie
bisher kennen lernen konnte, recht guter Art. Mit dem Pfarrer
besonders bin ich schon recht gut Freund. Ich möchte unter solchen
Umständen in keine Stadt. Die Pferde des Majors kann ich benüzen,
wann ich will.", schreibt Hölderlin seiner liebsten Mamma. (Gr.
StAg, 6-1, S. 102)
Hölderlin freut sich also zunächst über großzügige Gesten seines
Brotgebers, des Freiherrn Heinrich von Kalb, der ihm dessen Pferde zur
freien Verfügung stellt. Hölderlin darf ausreiten, wann er will, und
schreibt, dass er den Major wohl einen Freund nennen dürfe. Mit dem
Dorfpfarrer pflegt Hölderlin auch gerne mal ein Bier zu trinken,
welches ihm recht gut schmeckt, sodass Hölderlin seinen Neckarwein gar
nicht so sehr vermisst.
Die Gesellschafterin Wilhelmine Kirms, eine junge Witwe aus der
Lausitz (aus Dresden wie Hölderlin schreibt), die seit 1792 in
Diensten der Familie von Kalb steht und u.a. die dreijährige Tochter
Edda von Kalb betreut, ist sehr gebildet und versteht sich mit
Hölderlin auf Anhieb, denn sie ist die Einzige im Schloss, mit der
Hölderlin fachsimpeln und z.B. die neuesten Schriften von Kant
besprechen kann.
Hölderlin kniet sich richtig in die Vorbereitung des Unterrichts, um
seinem Zögling Fritz von Kalb die bestmögliche Bildung und Erziehung
zukommen zu lassen. Im kommenden Herbst (1794) will Hölderlin mit
seinem Zögling nach Jena gehen, um sich an der Universität
einzuschreiben und mit Schiller noch enger zusammenzuarbeiten. Seinen
Job als Erzieher wird Hölderlin dann auch weiterhin brauchen, um in
Jena das Brot über Nacht zu haben. Alles in allem fühlt sich Hölderlin
zum ersten Mal frei und unbeschwert. Er ist froh, den Zwängen der
Kirche vorerst den Rücken gekehrt zu haben und hegt große Hoffnungen,
als Dichter durchstarten zu können.
Charlotte von Kalb pflegt eine Freundschaft mit Goethe und Schiller und fördert junge brotlose Künstler wie Jean Paul, mit dem sie nach Schiller Jahre später ebenfalls eine Affäre beginnt. Im Gegensatz zu ihrem Gatten Heinrich von Kalb, der als ungehobelter Haudegen gilt und sie nur wegen ihres Geldes geheiratet hatte, hat sie einen Sinn für die Literatur bzw. Poesie und hegt selbst schriftstellerische Ambitionen. Um ihrer Zwangsehe zeitweise zu entfliehen, sucht sich Charlotte ihre Liebhaber gerne in Dichterkreisen, wollte sie sich schon nach der Geburt ihrer früh verstorbenen Tochter Adelheid Antoinette Sophia, die 1786 auf dem Höhepunkt der leidenschaftlichen Beziehung zu Schiller das Licht der Welt erblickte, von ihrem Mann Heinrich trennen. 1787 erwog Charlotte sogar die Scheidung und machte Schiller einen Heiratsantrag, was dieser jedoch ablehnte.
Das Foto zeigt Goethes Wohnhaus in Weimar.
Charlotte ist eher selten im Schloss und genießt das
gesellschaftliche Leben in Weimar mit literarischen Abenden und
Empfängen, trifft Persönlichkeiten wie Charlotte von Stein, die
Herzogin Anna Amalia und Johann Gottfried Herder, die für ihre
Kinder sogar Taufpaten waren.
Charlotte von Kalb, "die Majorin", wie Hölderlin sie auch nennt,
will natürlich auch Hölderlin fördern und gewährt ihm genügend
Freizeit, in der er an seinen Texten arbeiten kann, besonders am
'Hyperion'. Sie stellt Hölderlin in Aussicht, ihn mit Goethe,
Herder, Wieland und anderen Persönlichkeiten bekannt zu machen.
Am 19. Januar 1795 schreibt Hölderlin an Neuffer: "Ich kam zu
Herdern, und die Herzlichkeit, womit mir der edle Man begegnete,
machte auf mich einen unvergeßlichen Eindruk. Seine Darstellungsart
verläugnet sich auch in seinem Gespräche nicht. Doch glaubt' ich auch
eine Simplizität an ihm zu bemerken, und eine Leichtigkeit, die man im
Verlauf der Geschichte der Menschheit nicht vermuthen sollte, wie mich
dünkt. Ich werde wohl noch öfter zu ihm kommen. Auch mit Göthen wurd'
ich bekannt. Mit Herzpochen gieng ich über seine Schwelle. Das kannst
Du Dir denken. Ich traf ihn zwar nicht zu Hauße; abernachher bei der
Majorin. Ruhig, viel Majestät im Blike, u. auch Liebe, äußerst einfach
im Gespräche, das aber doch hie und da mit einem bittern Hiebe auf die
Thorheit um ihn, und eben so bittern Zuge im Gesichte - und dann
wieder von einem Funken seines noch lange nicht erloschnen Genies
gewürzt wird - so fand ich ihn. Man sagte sonst, er sei stolz; wenn
man aber darunter das Niederdrükende, u. Zurükstoßende im Benehmen
gegen unser Einen verstand, so log man. Man glaubt oft einen recht
herzguten Vater vor sich zu haben. Noch gestern sprach ich ihn hier im
Klubb [Goethe, Wieland, Herder]. (Gr. StAg, 6-1, S. 151)
Es klingt alles zu schön, um wahr zu sein. Die anfängliche Euphorie
Hölderlins weicht ziemlich bald der Ernüchterung, als Hölderlin
feststellen muss, dass auch das Leben außerhalb der Kirche voller
Zwänge ist.
Im Schloss Waltershausen sieht sich Hölderlin mit Unsittlichkeit und
Unmoral konfrontiert, allein schon durch das auffallend ungehorsame
Verhalten seines Zöglings Fritz, auf den Hölderlin Tag und Nacht
aufpassen muss und er deshalb seiner wohlverdienten Nachtruhe beraubt
wird, damit Fritz sich nicht unsittlich benehme. Heinrich von Kalb
warnt Hölderlin schon vor, dass Fritz onaniere und der vorherige
Hofmeister bereits seine liebe Not hatte, Fritz teilweise mit Schlägen
zum Gehorsam zu zwingen. Auch Hölderlin kann es Fritz nicht
abgewöhnen, was Hölderlin zunehmend frustriert. Hölderlin beschreibt
seine erfolglosen Erziehungsversuche im Sommer 1794 bereits als
"Perlen vor die Schweine" und konstatiert, dass Fritz von Kalb keine
Lehrer, sondern Ärzte bräuchte. Nach der Kündigung Hölderlins musste
sich Fritz später tatsächlich einer ärztlichen Behandlung unterziehen,
denn die Selbstbefriedigung galt im 18. Jahrhundert als
gesundheitsschädlich, wenn nicht sogar als tödlich.
Langsam aber sicher erkennt Hölderlin auch, wie sehr die Herrschaften
ihre Machtposition gegenüber ihren Bediensteten ausnutzen.
Hölderlin erfährt von Wilhelminens Problemen. Sie braucht einen
Anwalt, um wenigstens einen Teil des Erbes ihres verstorbenen Mannes
zu erstreiten, das ihr die Schwiegerfamilie verweigert. In Adolf Becks
Abhandlung über die Gesellschafterin Charlottens ist darüber einiges
nachzulesen.
Hölderlin schreibt seinem Freund Neuffer, dass Wilhelmine "eine
schlechte Mutter" habe und "ein Schicksal". Sie tut ihm sehr leid.
Wilhelminens Mutter, die aus einfachen Verhältnissen stammt, ist durch
ihre dritte Ehe mit einem irischen Baron gesellschaftlich und
finanziell aufgestiegen, könnte ihre Tochter finanziell unter die Arme
greifen und mit einem reichen Mann erneut verheiraten. Sie überlässt
jedoch ihre Tochter dem Schicksal und schickt Wilhelmine als
Gouvernante zur Familie von Kalb, wohlwissend, dass Wilhelmine für
ihren Lebensunterhalt selber sorgen und sich ihrem Brotgeber Heinrich
von Kalb fügen muss. Da Wilhelminens Stiefvater irische Wurzeln hat,
erklärt vielleicht, warum Wilhelmine neben Französisch auch sehr gut
Englisch spricht.
Man kann nur erahnen, inwieweit Hölderlin tatsächlich miterlebt, wie
sich eine so kluge und gebildete junge Frau wie Wilhelmine als
Unterhalterin verdingen und neben Edda von Kalb vor allem den
gelangweilten Schlossherrn bei Laune halten muss.
Dem arbeitslosen Major von Kalb macht dazu noch seine drohende
Verarmung aufgrund zwielichtiger Geschäfte und Fehlinvestitionen
zunehmend zu schaffen, ist er auch schon ein Gesprächsthema in der
Meininger Gesellschaft. Von Kalb, der früher in Amerika unter
Lafayette gekämpft hatte, kümmert sich jetzt nur noch um Heim und
Familie und geht auch nur selten aus, wie Hölderlin schreibt. Hin und
wieder lädt der Major jedoch Gäste wie der Herzog von Meiningen zum
Mittagessen ins Schloss ein, um gesellschaftlich nicht ganz ins
Abseits zu geraten und um im Hinblick auf seinen Ruf in der
Gesellschaft den Schein zu wahren.
Umso bestürzter wäre Hölderlin wohl gewesen, wenn er in seiner Zeit in
Jena noch mitbekommen hätte, dass Wilhelmine gar keine neue Stelle in
Meiningen hatte, sondern schwanger war und untertauchen musste, um ihr
uneheliches Kind im Verborgenen zur Welt zu bringen.
Hölderlin wusste wohl eher nicht, dass Wilhelmine ihr Kind bei den Von
Kalbs in Weimar heimlich gebar und das Ehepaar das Kind als ihr
eigenes ausgab, damit es ehelich getauft werden konnte und die
Sittenwächter der Kirche keine unbequemen Fragen stellten. Johann
Gottfried Herder war der Taufzeuge und Charlotte von Stein die Patin.
Freiherr Heinrich von Kalb nahm Wilhelminens Mädchen also unter dem
Namen Von Kalb in seinen Stammbaum auf, gerade weil er der leibliche
Vater von Wilhelminens Tochter war und nicht der arglose Hölderlin.
Charlotte von Kalb war anfangs tolerant genug, das Versteckspiel ihres
Mannes und seiner Geliebten mitzuspielen, vor allem aber auch, um in
der streng gesitteten Weimarer Öffentlichkeit als auch daheim in
Waltershausen/Meiningen kein großes Aufsehen zu erregen. Zudem wollte
Charlotte nicht riskieren, dass sich ihr Ehemann von ihr trennt, wenn
sie nicht mitspielt, weil er ihr sonst ihren Sohn Fritz entzogen
hätte. Das hatte er ihr schon früher angedroht, als sie sich wegen
Schiller scheiden lassen wollte, wie Charlotte in ihren Memoiren
schreibt.
Desweiteren könnte Charlotte auch deshalb wenigstens einmal die
offizielle Mutter eines der unehelichen Kinder ihres Mannes gespielt
haben, weil ihr Gatte Heinrich von Kalb 1786 eine in Mannheim geborene
Tochter Charlottens als sein Kind annahm, obwohl er das ganze Jahr
beim Militär beschäftigt war und Charlotte allein mit Schiller in
Mannheim ihre Liebesbeziehung genoss. Diese Tochter könnte durchaus
Schillers Kind gewesen sein. Sie verstarb offiziell angeblich auch
gleich nach der Geburt und könnte in Wahrheit vielleicht einer Amme
anvertraut worden sein. Charlotte musste auf Geheiß ihres Mannes
danach sofort zu ihrem Schwiegervater nach Kalbsrieth übersiedeln, was
sie sehr bedauerte, liebte sie doch das gesellschaftliche und
kulturelle Leben in Mannheim und das angenehm warme Klima.
Für Wilhelmine und alle anderen Beteiligten war diese diskrete
Vorgehensweise jedenfalls die beste und eine wirklich elegante
Lösung... und das Ehepaar von Kalb war unter den Adligen damit
keineswegs eine Ausnahme. Eine Hand wusch die andere.
Das Foto zeigt das ehemalige Wohnhaus der Familie von Kalb in
Weimar, der erste Wohnsitz Goethes. Goethe war vom 7. November 1775
bis zum 18. März 1776 der Hausgast Charlottens, als er nach Weimar
gezogen war. 1804 war Freiherr Heinrich von Kalb pleite und
verkaufte u.a. auch dieses Haus.
Schiller höchstpersönlich bezog zunächst mit seiner Ehefrau
Charlotte von Lengefeld für einige Zeit dieses Haus, was seiner Frau
aber nicht wirklich behagte, weil sie wusste, dass Charlotte von
Kalb Schillers Ex-Geliebte war. Sie war bemüht, alle Spuren der
Freifrau von Kalb zu entfernen.
Seit 1810 war das Haus die Gaststätte 'Hotel de Saxe' und wurde 1870
in 'Sächsischer Hof' umbenannt.
Das Ehepaar Von Kalb trennte sich 1802 endgültig. Charlotte ging mit
Tochter Edda nach Berlin, wo Edda Hofdame am preußischen Hof wurde und
ihre Mutter zu sich ins Schloss nahm. Die Söhne Fritz und August
Wilhelm waren beim Militär. Heinrich von Kalb zog sich mit seiner
Geliebten Anna Barbara Todt, die auch bei ihm als Köchin angestellt
war, und den drei gemeinsamen Kindern auf sein Schloss Trabelsdorf
zurück. Da sein Ruf ruiniert und seine Verhältnisse komplett zerrüttet
waren, brauchte er seine drei unehelichen Kinder auch nicht mehr in
der Meininger Öffentlichkeit zu verstecken. 1806 erschoss er sich im
Gasthof 'Zum Goldenen Hahn' in München. August Wilhelm versuchte
vergeblich das restliche Erbe seiner Eltern zu retten, erschoss sich
1825 auf der preußischen Festung. Die einzige Enkeltochter, Henriette
Franziska, die von Fritz von Kalb stammt, starb 1870 kinderlos, sodass
dieses Adelsgeschlecht letzten Endes ausstarb.
Doch zurück zu Hölderlins Zeit 1795 in Jena, noch immer mit der
nervigen Familie Von Kalb im Schlepptau:
Hölderlin war schon über zwei Monate in Jena und klang in seinem Brief
an Neuffer ganz und gar nicht begeistert, dass Charlotte von Kalb samt
ihrem Gatten im neuen Jahr (Januar 1795) wieder längere Zeit in Weimar
residieren wollte. Hölderlin, der sich noch immer mit dem Zögling
Fritz herumschlagen musste, ärgerte sich über sich selbst, dass er
sich vom Ehepaar von Kalb (dem "Major" und der "Majorin") hat
breitschlagen lassen, Fritz noch zwei weitere Wochen auf Probe zu
betreuen, obwohl Hölderlin im alten Jahr (1794) bereits entnervt
gekündigt hatte.
"Ich schrieb Dir noch vor meiner Abreise von Waltershausen, wie ser
ich durch mein Erziehersgeschäft in meiner Selbstbildung gestört
würde. Ich litt mer, lieber Neuffer! als ich schreiben mochte. Ich
sah, wie sich das Kind mit jedem Tage mer verdarb, und konnte nicht
helfen, wahrscheinlich hätt' es auch ein vollkomnerer Erzieher nicht
gekonnt. Wir kamen hieher, ich verläugnete beinahe meine Wünsche, den
hiesigen Aufenthalt zu benüzen ganz, nur um das Äußerste an meinem
Zöglinge zu versuchen; ich wagte meine Gesundheit durch fortgeseztes
Nachtwachen, denn das machte sein Übel nötig, und ich wollte auch so
den verlornen Tag zum Theil ersezen, oft schien es mir zu gelingen,
aber es folgten nur traurigere Rezidive, und ich fieng auch an, auf
eine gefährliche Art an meinem Kopfe zu leiden, durch das öftere
Wachen, wohl auch durch den Verdruß. […] Schillers Umgang hielt mich
auch noch empor." (Große Stuttgarter Ausgabe 6-1, S. 150)
Hölderlins Formulierung "an meinem Kopfe zu leiden" wurde von
Kritikern immer wieder als Beginn der angeblichen Schizophrenie
Hölderlins gewertet, dabei finde ich es absolut nachvollziehbar, dass
Hölderlin durch seine gestörte Nachtruhe am Tage müde und abgeschlagen
war und durch den ständigen Frust, Fritz von Kalb das Onanieren nicht
abgewöhnen zu können, immer missmutiger und ungehaltener wurde, auch
weil er sich nicht wie gewünscht auf seine Arbeit am 'Hyperion'
konzentrieren konnte. Hölderlins Ausdrucksweise "am Kopfe leiden"
ist lediglich eine altmodische Formulierung aus dem 18. Jahrhundert.
Selbst Schiller schrieb in seinem Brief an seinen Freund Körner, dass
etwas, was ihn geärgert hatte, seinen Kopf "zerstörte" oder
"zerrüttete". "Die Zerstörung/Zerrüttung meines Kopfes", wie
Schiller sich ausdrückte.
Wenn wir genervt sind, dann würden wir heutzutage an Schillers und
Hölderlins Stelle sagen: Der Fritz von Kalb macht mich wahnsinnig!!
Oder: Ich werd' hier noch verrückt!! Unsere Redewendungen im 21.
Jahrhundert sind ja auch keine Indikation für eine Psychotherapie,
weil sie natürlich nicht wörtlich zu nehmen sind.
Charlotte von Kalb wollte Hölderlin trotz seiner Kündigung nicht gehen
lassen. Sie klammerte sich förmlich an ihn, was ihm äußerst unangenehm
war. Für die kommenden drei Monate gab sie ihm genug Geld, wohl in der
Hoffnung, Hölderlin möge sich weiterhin um Fritz kümmern. Heinrich von
Kalb versuchte ebenfalls, Hölderlin zum Durchhalten zu bewegen, um
Fritz so lange wie möglich (ursprünglich war ein halbes Jahr
angedacht) in Jena zu betreuen, wogegen sich Hölderlin aber zunehmend
sträubte.
Was Hölderlin wohl nicht ahnte, war, dass das Ehepaar von Kalb ihren
nervigen Sohn Fritz zumindest so lange an Hölderlin abtreten wollte,
bis Wilhelmine in ihrem Versteck oben in der Mansarde niedergekommen
war. Charlotte hatte sich in dieser Zeit um Wichtigeres als ihren
Fritz zu kümmern, und Heinrich von Kalb musste zeitweise auf
Geschäftsreise. Freiherr von Kalb kehrte erst wieder zur Taufe seiner
Tochter nach Weimar zurück. Da war Hölderlin bereits aus Jena
abgereist und auf dem Weg zur Mutter nach Nürtingen.
Das Geschehen abSeptember 1794 - September 1796
in Waltershausen/Meiningen und Weimar/Jena im Überblick:
1. Wilhelmine Kirms musste etwa Mitte September 1794 mit einem Mädchen
schwanger geworden sein, weil laut der Kirchenbücher im Sommer 1795,
also im errechneten Zeitraum ihrer Niederkunft, nur Freiherr von Kalb
(am 12. Juni 1795) Vater einer Tochter wurde und nicht Hölderlin. Der
Zeitraum der Empfängnis lässt sich aus dem Datum des Sterberegisters
der Hofkirche zu Meiningen und dem dort angegebenen Alter ihres an den
Blattern verstorbenen Kleinkindes auf Mitte Oktober 1794
zurückrechnen.
Ende August bis etwa Anfang Oktober war Hölderlin mit Charlotte von
Kalb und dem Zögling Fritz auf einem Kalbischen Gut im Steigerwald. Er
war den ganzen September noch mit der Umarbeitung seines
'Hyperion'-Fragments beschäftigt, das er Schiller ab November in Jena
persönlich zum Druck vorlegen wollte. "[...] meinem Roman, wovon Du
die fünf ersten Briefe diesen Winter in der Thalia finden wirst. Ich
bin nun mit dem ersten Theile beinahe ganz zu Ende. Fast keine Zeile
blieb von meinen alten Papieren." (Große Stuttgarter Ausgabe, 6-1, S.
136f)
Im Steigerwald erwartete Hölderlin mit Sorge einen Brief von seinem
lieben Freund Neuffer, dessen Verlobte Rosine Stäudlin todkrank war
und vermutlich bereits im Sterben lag, weshalb Hölderlin Neuffer
angeboten hatte, schnell zu ihm nach Hause zu laufen, falls dieser
Hölderlins moralischen Unterstützung und Trost bedürfe.
Im Oktober zurück in Waltershausen schrieb Hölderlin an Neuffer: "Ich
war Dir schon um einige Tagereisen näher, als gewönlich, auf einem
Kalbischen Gute auf dem Staigerwalde, in der Gegend von Bamberg, u.
erwartete da Deinen lezten Brief [...] da ich beinahe schon halbwegs
[daheim] war, und mich die Natur mit ein paar rüstigen Beinen versehen
hat." (Große Stuttgarter Ausgabe, 6-1, S. 135)
Freiherr von Kalb war mit Wilhelmine in Waltershausen geblieben und
konnte sich mit ihr in Ruhe auf seine erweiterte Familienplanung
konzentrieren. Wilhelmine war ja jemandem versprochen wie man
Hölderlin gesagt hatte. Es ist sehr gut möglich, dass sich das Ehepaar
von Kalb vorab sogar darauf verständigt hatte, was früher viele Adlige
getan haben, um wegen der hohen Kindersterblichkeit wenigstens noch
ein paar weitere Nachkommen mit Nebenfrauen für den Machterhalt zu
zeugen und das Adelsgeschlecht nicht aussterben zu lassen. August der
Starke soll sogar über 350 uneheliche Kinder gehabt haben.
Wie Hölderlin anfangs nach seiner Ankunft in Waltershausen in einem
Brief nach Hause schrieb, kümmere sich der Major von Kalb, der früher
in Amerika gekämpft hatte, jetzt nur noch um Heim und Familie und
ginge auch nur selten aus. "Er liebt die Ruhe ser, verreist selten,
und hat immer wenig Gesellschaft. »Ich habe mich lange genug unter
Menschen, zu Land und zu Meer herumgetummelt, spricht er, jezt ist mir
Weib und Kind, und Haus und Garten um so lieber.« Er war noch vor drei
Jaren in französischen Diensten, und hat unter Lafayette den
Amerikanischen Krieg mitgemacht." (Große Stuttgarter Ausgabe, 6-1, S.
102f)
2. Hölderlin war ab November mit seinem Zögling Fritz von Kalb
Vollzeit in Jena, besuchte Vorlesungen an der Uni und arbeitete mit
Schiller bereits eng zusammen, was Hölderlin außerordentlich gefiel.
Am 26. Dezember 1794 schrieb Hölderlin seiner Mutter aus Jena: "Meine
Herrschaft findet den Aufenthalt auf dem Lande jezt plözlich zu
langweilig... " (Große Stuttgarter Ausgabe, 6-1, S. 143), und man
wolle jetzt unbedingt in die Stadt ziehen.
Hölderlin schrieb im Januar seinem Freund Neuffer, dass er sich
wundere, was der "Majorin" (Charlotte von Kalb) einfiele, weil sie
plötzlich für ein halbes Jahr nach Weimar ziehen wolle. Dabei erfuhr
Hölderlin nebenbei vom Ehepaar von Kalb, dass Wilhelmine seit Dezember
in einer neuen Anstellung als Gouvernante in Meiningen wäre. Das
entsprach aber nicht den Tatsachen. Adolf Beck konnte auch keine neue
Familie in Meiningen ausfindig machen, die eine (heimlich) schwangere
alleinstehende Frau eingestellt hätte, schon weil es die Sittengesetze
gar nicht zuließen.
Diesbezüglich wurde Hölderlin also angelogen! Er machte sich über
Wilhelmine keine weiteren Gedanken, schrieb im Januar 1795 nur, dass
er Wilhelmine als eine Freundin nur ungerne verloren habe. So weit, so
gut. Danach hatte Hölderlin Wilhelmine nie wieder erwähnt.
3. Im Dezember/Januar gingen Charlotte und ihr Mann Heinrich heimlich
mit der schwangeren Wilhelmine nach Weimar in das Wohnhaus der Von
Kalbs. Charlotte hatte Bedenken, wie Hölderlin wohl mit Fritz allein
in Jena auskäme und wollte ihren Sohn sehen. Daher schrieb sie
Schiller, dass sie nach Weimar käme und weil sie nicht das Haus
verlassen könne, tue sie mal so, als wäre sie krank. Sie hoffte,
Schiller würde mit Fritz und Hölderlin zu ihr nach Weimar kommen.
Schiller dürfte sich wohl darüber gewundert haben. Jedenfalls kam er
ihrer Bitte nicht nach.
Hölderlin schrieb seiner Mutter aus Jena, dass die 'Majorin' nach Jena
gekommen sei, um ihn und ihren Sohn Fritz abzuholen. Hölderlin sagte
Charlotte von Kalb, dass er sich nicht mehr um Fritz kümmern wolle und
könne, und kündigte für Ende Dezember 1794 seine Stelle als
Hofmeister, allerdings dann mit Verlängerung bis in den Januar 1795.
Schiller hatte im Sinne der Charlotte von Kalb, die Hölderlin nicht so
plötzlich gehen lassen wollte, Hölderlin noch vorgeschlagen, es mit
Fritz noch bis Ostern zu versuchen (weshalb Charlotte Hölderlin ja
auch den dreimonatigen Vorschuss gezahlt hatte). Hölderlin schreibt am
26. Januar 1795 aus Jena an Hegel: "Ich lies mich durch sie und
Schillern überreden, den Versuch noch einmal zu machen, konnte aber
den Spaß nicht länger als 14 Tage ertragen, weil es unter anderem auch
mich beinahe ganz die nächtliche Ruhe kostete, und kehrte nun in
vollem Frieden nach Jena zurük, in eine Unabhängigkeit, die ich im
Grunde jezt im Leben zum erstenmale genieße, und die hoffentlich nicht
unfruchtbar seyn soll. Meine productive Tätigkeit ist izt beinahe ganz
auf die Umbildung der Materialien von meinem Romane gerichtet. Das
Fragment in der Thalia ist eine dieser rohen Massen. Ich denke bis
Ostern damit fertig zu seyn." (Große Stuttgarter Ausgabe, 6-1, S. 154)
An den Bruder Karl schrieb Hölderlin im April 1795: "Mein Werkchen,
von dem ich schon schrieb, hat Cotta in Tübingen, auf Schillers
Veranlassung, in Verlag genommen; [...] Wahrscheinlich laß' ich mich
nächsten Herbst, wenn ich [in Jena] bleibe, hier examiniren. Das ist
die einzige Bedingung, die mir die Erlaubnis giebt, Vorlesungen zu
halten. (Große Stuttgarter Ausgabe, 6-1, S. 164f)
Hölderlin hatte sich in Jena also voll und ganz mit Schiller, aber
auch mit Unterstützung Goethes und Niethammers in seine Arbeit
gestürzt, was er genoss.
Das Ehepaar von Kalb hatte in Weimar dann auch den Entschluss gefasst,
ihren Sohn Fritz in ärztliche Betreuung zu geben, damit dessen
krankmachendes Laster (Onanieren) behandelt werden könne.
4. Hölderlin wusste nicht, dass Wilhelmine gar keine neue Stelle
hatte, sondern als schwangere alleinstehende Frau aufgrund der
strengen Sittenlage unter Verschluss gehalten werden musste, weil
Heinrich von Kalb seine uneheliche Tochter mit Wilhelmine Kirms
offiziell nur ehelich unter seinem Familiennamen Von Kalb gebären und
taufen lassen konnte, um der Kirchenstrafe zu entgehen. Charlotte von
Kalb musste somit die offizielle Mutter spielen und konnte sich
deshalb auch nicht ständig in der Öffentlichkeit in Weimar und Jena
zeigen, weil man sonst gesehen hätte, dass Charlotte von Kalb gar
nicht schwanger war und man sich dann natürlich gefragt hätte, woher
bei den Von Kalbs plötzlich ein Säugling kommt.
5. Am 12. Juni 1795 wurden im offiziellen Taufbucheintrag des
Kirchenregisters zu Weimar Heinrich und Charlotte von Kalb als Eltern
der Tocher Eleonore Susanne Amalie Henriette von Kalb genannt, die sie
wenige Wochen nach der Geburt im Juli offiziell als verstorben
eintragen ließen. Die Tochter war aber nur auf dem Papier tot. Es gab
sozusagen einen fliegenden Wechsel unter der Hand. Alle Spuren mussten
verwischt werden, damit man keine Verbindung zu Wilhelmine herstellen
konnte.
Aus diesem Grund gingen die Von Kalbs auch in das entferntere Weimar,
wo Charlotte von Kalb in der Öffentlichkeit nicht ganz so bekannt war
wie daheim in Waltershausen/Meiningen, wo man sie seit ihrer Geburt
kannte.
Wilhelmine konnte daher dann völlig unbehelligt ihre Tochter im Juli
1795 zurück nach Waltershausen/Meiningen mitnehmen und nannte sie
fortan Louise Agnese. Sie lebte mit ihrer Tochter wieder im Schloss
Waltershausen zusammen mit Freiherr Heinrich von Kalb, der das größte
Interesse gehabt haben dürfte, dem abwesenden Hölderlin die
Vaterschaft in die Schuhe zu schieben, weil sich die Waltershäuser und
Meininger sowie die restliche Dienerschaft natürlich über das
plötzliche Erscheinen eines Säuglings wunderten.
6. In Meiningen grassierten 1796 die Blattern (Pocken). Am 20.
September 1796 verstarb Wilhelminens Tochter wie viele andere Kinder
tatsächlich an dieser Krankheit. Das Mädchen war dann unter dem Namen
Louise Agnese Kirms im Sterberegister der Hofkirche zu Meiningen
(siehe Foto unten) mit Wilhelmine Marianne Kirms als Mutter
eingetragen und wurde von einer Amme zu Grabe getragen und anonym
beerdigt.
Der Vater ist im Sterberegister nicht genannt. Laut Sterberegister war
Louise Agnese 1 Jahr, 9 Wochen und 5 Tage alt (mit der Anzahl der
Wochen und Tage konnte Wilhelmine bei der Altersangabe ihrer
verstorbenen Tochter im Nachhinein rückwirkend ein wenig tricksen).
Vom 20. September 1796 zurückgerechnet, gebar Wilhelmine ihre Tochter
Louise Mitte Juli 1795 an einem unbekannten Ort. Anfang Juli 1795
verstarb angeblich die Tochter Eleonore des Ehepaares von Kalb in
Weimar. In dieser Übergangszeit musste der Identitätenwechsel, d.h.
Namenswechsel (Eleonore von Kalb -> Louise Agnese Kirms)
vorbereitet und durchgeführt werden, damit eine heimliche Übergabe ein
und desselben Kindes möglich war.
Der unkonventionelle Herder, der Generalsuperintendent der Weimarer
Stadtkirche St. Peter und Paul ("Herderkirche"), Taufzeuge und
vertrauter Freund Charlottens von Kalb war, konnte dem Ehepaar von
Kalb beim entsprechenden Kirchenbucheintrag dahingehend behilflich
sein. Herder schien genau der richtige Ansprechpartner für solche
heimlichen Unternehmungen gewesen zu sein. Herders Nachfahrin sagte in
der SWR-Sendung 'Ich trage einen großen Namen', dass sich Herder
manchmal den Unmut der Kirche zugezogen hatte, wenn er
unkonventionelle Dinge tat oder sagte, wie z.B. "die Menschen
bräuchten nicht unbedingt den Gottesdienst zu besuchen. Sie könnten
Gott auch draußen in der Natur nahe sein oder an welchem Ort auch
immer."
Schiller war nicht immer gut auf Goethe und Herder zu sprechen.
Bereits im September 1789 beschrieb Schiller seinem Freund Körner, wie
unmöglich sich Herder bei seiner Predigt in Weimar verhalten habe,
denn er predigte über sich selbst. Ein unverzeihlicher Fehler, eine
"Komödie", die die Gemeinde und alle Gottesdienstbesucher empörte.
Herders Feinde frohlockten, Herders Freunde waren vor Entsetzen
sprachlos.
Da sich Herder also manchmal im Gottesdienst wie auch bei Hofe
ziemlich danebenbenahm (bei Hofe, der ihn unterstützte, lästerte er
offen über wichtige Personen, wie Schiller schrieb), hatte das Ehepaar
von Kalb wohl auch den richtigen Pfarrer gefunden, der keine Scheu
hatte, ein uneheliches Kind einer Mätresse als eheliches, adliges Kind
zu taufen, um den Herrschaften von Kalb die öffentliche Schande und
Kirchenstrafe zu ersparen.
7. Der Hölderlinforscher Adolf Beck konnte daher trotz langem Suchen
keinen offiziellen Geburteneintrag der Tochter Wilhelminens finden,
weil Louise Agnese unter dem Namen Eleonore von Kalb zur Welt kam und
die ganze Zeit mit ihrer Mutter bei den Von Kalbs auch gelebt hatte -
wie später die drei unehelichen Kinder der Bamberger Lehrerstochter
Anna Barbara Todt, die bei Freiherr von Kalb im Schloss Waltershausen
als Köchin angestellt war.
Charlotte von Kalb blieb die meiste Zeit weiterhin bei ihrem Sohn
Fritz in Weimar, wo sie 1796 den jungen Dichter Jean Paul Richter zu
sich einlud, ihn wie Hölderlin förderte und mit ihm im Laufe der Zeit
eine Affäre begann. Wie zuvor bei Schiller machte sie Jean Paul auch
einen Heiratsantrag. Wilhelmine verließ nach dem Tod ihrer Tochter
Schloss Waltershausen, heiratete wieder und bekam weitere Kinder.
Heinrich von Kalb schwängerte im Frühsommer 1799 seine nächste
Geliebte, Anna Barbara Todt, die im Februar 1800 einen Sohn zur Welt
brachte. Nachdem sich der Major, Freiherr Heinrich von Kalb, 1806
aufgrund der "kompletten Zerrüttung seiner Verhältnisse" erschossen
hatte, heiratete Barbara Todt einen Amtmann.
Charlotte von Kalb nahm 1812 Barbara Todts Tochter (geb. 1801), die
wie Wilhelminens Tochter ebenfalls Luise genannt wurde, als Pflegekind
zu sich nach Berlin.
8. Charlottens Liebhaber und Vertrauter Jean Paul Richter schrieb,
dass der eheliche Beischlaf des Ehepaares von Kalb nach der schweren
Geburt des Sohnes August Wilhelm 1793 aufgehoben war. Vermutlich
konnte Charlotte keine Kinder mehr bekommen und fühlte sich ihrem
Ehemann dahingehend auch nicht mehr verpflichtet. Deshalb hatte sich
Heinrich von Kalb spätestens dann mit Wissen seiner Frau Charlotte
zuhause im Schloss seine Nebenfrauen genommen. Eleonore von Kalb kann
also nicht die leibliche Tochter Charlottens, sondern nur die
uneheliche Tochter Wilhelminens gewesen sein. Da Freiherr Heinrich von
Kalb das Mädchen in seinen Stammbaum aufgenommen hatte, kann auch nur
er als leiblicher Vater in Frage kommen - und nicht der ahnungslose
Hölderlin.
Mit dieser Erkenntnis ergibt die gesamte Korrespondenz aller
Beteiligten und Zeitzeugen für mich jetzt einen Sinn, z.B. dass
Hölderlin in seinem Brief auf Neuffers Frage, ob sich Hölderlin denn
auch bald verheirate, ganz unbedarft antwortete, dass Wilhelmine schon
"jemandem versprochen" sei und es niemanden im Moment in seinem Umfeld
gäbe. Hölderlin muss wohl der Meinung gewesen sein, dass Wilhelmine
verlobt war. Warum hätte er es auch anzweifeln sollen?
Autoren schreiben bis heute, dass Wilhelmine doch gar keinen Verlobten
hatte. Ja, das wissen wir heute nach vielen Forschungen, aber für
Hölderlin war diese Aussage damals völlig normal. Wir wissen heute,
dass sie natürlich keinen Verlobten hatte, denn sie war die
inoffizielle Nebenfrau des Freiherrn von Kalb, was Hölderlin und viele
andere aber nicht wussten. So genau hatte man Hölderlin nicht auf die
Nase gebunden, wem Wilhelmine verpflichtet war. Hölderlin hatte man
generell über Wilhelminens Zustand nicht informiert - warum auch? Er
persönlich hatte mit dem ganzen Schwangerschaftsdrama absolut nichts
zu tun.
9. Freiherr von Kalb musste mithilfe seiner Ehefrau Charlotte einige
Anstrengungen unternehmen und zusehen, dass er sein uneheliches Kind
diskret und ohne großes Aufsehen in seine Familie aufnehmen konnte.
Wahrscheinlich waren außer der Hebamme vielleicht nur ein oder zwei
Kammerfrauen notgedrungen eingeweiht sowie vertraute Freunde wie
Goethe, Herder und Charlotte von Stein, die bei Charlotte von Kalb
gern gesehene Gäste waren und die Hölderlin im Hause Von Kalb in
Weimar einmal kennenlernte. Hölderlin war von Herder sehr beeindruckt
und öfters bei ihm zu Gast.
Gottfried Herder war bei der Kalbischen Taufe im Juni 1795 der
Taufzeuge und Charlotte von Stein die Patin der Tochter Heinrichs von
Kalb, wie Emil Palleske in seinen urkundlichen Abschriften 1879
veröffentlichte.
Goethe, der früher eine Liebesbeziehung zu Charlotte von Stein hatte,
lebte mit Christiane Vulpius und den unehelichen Kindern lange Zeit in
wilder Ehe, sodass Goethe und Charlotte von Stein Verständnis für
solche Verhältnisse hatten und Charlotte von Kalb halfen, diese
pikante Angelegenheit diskret über die Bühne zu bringen.
Je weniger Leute aber von dem unehelichen Kind wussten, desto besser.
Am Ende der Gasse sieht man das rosa-gelbe Wohnhaus Herders hinter
der Kirche verschwinden. Die graue Mauer rechts ist die
'Herderkirche' (St. Peter & Paul), wo Herder begraben liegt.
Charlotte von Kalb wollte Hölderlin nicht gehen lassen, daher bot
auch Herder Hölderlin Unterstützung an, d.h. eine Stelle als
Hauslehrer im Hause Herder, was Hölderlin aber ebenfalls ablehnte.
Hölderlin wollte Fritz von Kalb nicht mehr betreuen, daher zahlte er
den Vorschuss an Charlotte von Kalb zurück. Er wollte auch nicht
ständig nach Weimar kommen, weil er seine Vorlesungen bei Fichte
nicht verpassen und seiner Wege gehen wollte.
Die Herderkirche und Herders Wohnhaus sind nur wenige Schritte vom
Wohnhaus Charlottens entfernt. Weimar und Charlottens Umfeld waren
Hölderlin zu eng. Er wollte sich von ihr unabhängig machen, wie er
explizit in seinem Brief an seine Mutter schrieb, und nicht ihr
Schoßhündchen spielen. Die Tatsache, dass der Major von Kalb eine
Beziehung mit der jungen Wilhelmine hatte, dürfte Charlotte dazu
bewogen haben, sich ebenfalls einen jungen Liebhaber zu gönnen. Da
wäre ihr Hölderlin gerade willkommen gewesen.
Das Foto zeigt die Schlosskirche am Marktplatz.in Meiningen.
Da Freiherr von Kalb für seine Affären bekannt war, sahen die
Meininger es wohl als ein offenes Geheimnis an, dass Wilhelminens
Tochter das uneheliche Kind des arbeitslosen Majors von Kalb war.
Nur hatte sich wohl keiner getraut, dies auszusprechen, auch nicht
hinter vorgehaltener Hand. Lieber hatte man Hölderlin als Sündenbock
benutzt, um Charlotte weitere öffentliche Schmach zu ersparen.
Charlotte von Kalb könnte aus Enttäuschung über Hölderlins Weggang
aus Jena dieses Gerücht noch befeuert haben - schlimmer noch, sie
war ungehalten, als sie erfuhr, dass Hölderlin in Frankfurt mit
Susette Gontard eine Liebesbeziehung hatte und Charlotte auch
diesmal wieder von einem Mann verschmäht wurde. Charlotte schlug am
Ende ihrer Ehe wild um sich, sodass sogar ihre Familie sie
entmündigen lassen wollte.
Als Hölderlin also in den ersten Monaten des Jahres 1795 in Jena war
und zeitweise mit seinem Freund Isaac von Sinclair in einer
Gartenlaube hauste, um Geld zu sparen, hatte sich Charlotte bei
Schiller beschwert, dass Hölderlin nicht sehr zugänglich sei. Schiller
hatte daraufhin wohl versucht, Hölderlin klarzumachen, wie die Dinge
laufen, wenn sich ein brotloser Künstler von einer adligen,
einflussreichen Dame fördern lässt, um Karriere zu machen.
Als Hölderlin begriff, dass er sich von Charlotte von Kalb aushalten
lassen solle, wie das früher Schiller und später Jean Paul getan
hatten, schrieb Hölderlin seiner Mutter nach Hause, sie möge ihm einen
bestimmten Geldbetrag und noch etwas mehr für den Eigenbedarf
schicken, weil er in Meiningen (gemeint ist Von Kalb in Waltershausen)
"einen kleinen Posten zu begleichen" habe.
Da Hölderlin eine gute Mutter hatte, bekam er das Geld, um Charlotte
von Kalb das für die besagten drei Monate vorgestreckte Geld
zurückzuzahlen und sich so wieder unabhängig zu machen. Als das Geld
Ende Mai immer knapper wurde und Hölderlin in Jena keine neue sichere
Einkommensquelle hatte, musste er letztlich wohl oder übel Jena
verlassen und erstmal wieder nach Hause zur Mutter gehen. Das tat er
mit "zerrissenen Gefühlen", also mit einem lachenden und einem
weinenden Auge, weil er sich ja gerne weiterhin im Kreise Schillers
und der anderen klugen Köpfe einen Namen gemacht hätte, aber natürlich
ohne faule Kompromisse und die ständige Einmischung der dominanten
Majorin von Kalb.
Charlotte dürfte es daher ganz und gar nicht gefallen haben, dass sich
Hölderlin quasi über Nacht sang- und klanglos aus dem Staub gemacht
hatte. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Schiller von da an
erstmal nicht mehr auf Hölderlins Briefe geantwortet bzw. Ausreden
hatte, warum Hölderlins Gedichte nicht mehr in Schillers Musenalmanach
erschienen. Angeblich habe Hölderlin seine Gedichte für den Druck zu
spät eingereicht, manchmal waren seine Gedichte ohne Nennung von
Gründen einfach ignoriert worden, usw. ... Vielleicht wollte Charlotte
Hölderlin am langen Arm verhungern lassen, ihm seine unterlegene
Position bewusst machen, um ihn weichzukochen, damit er am Ende wieder
zu ihr zurückkommt.
ABER: Hölderlin als Mann von Grundsätzen wäre nicht Hölderlin, wenn er
sich davon hätte verbiegen lassen. An seiner Stelle hätte ich (und
habe bereits wie auch andere Familienmitglieder) genauso gehandelt.
Für einen zweifelhaften Ruhm verkaufen wir uns nicht.
Ab 1800 bis etwa 1801, als Charlottens Liebhaber Jean Paul eine andere
heiratete und Heinrich von Kalbs Geliebte Barbara Todt den ersten
gemeinsamen Sohn zur Welt brachte, war Charlotte am Boden zerstört.
Für sie waren diese unehelichen Kinder eine "öffentliche Beschämung
und Qual", wie Ursula Naumann in ihrem Buch über Charlotte von Kalb
beschreibt, genauso wie die drohende Verarmung der Familie insgesamt.
Rastlos reiste Charlotte laut Adolf Beck umher, u.a. nach Heilbronn,
Heidelberg, Mannheim, Homburg, freundete sich mit Sinclair an,
wandelte auf Hölderlins Spuren, sodass Susette Gontard eifersüchtig
wurde. Charlotte wollte den Kontakt zu Hölderlin wieder auffrischen.
Sie hatte 'Hyperion' mit Begeisterung gelesen und wollte unbedingt mit
ihm über sein Buch sprechen. Hölderlin hatte aber nicht mehr auf
Charlotte reagiert, liebte er doch Susette, hatte andere Pläne und
ging Anfang 1801 als Hauslehrer nach Hauptwil in die Schweiz.
22. Mai 1795 - Hölderlin bewirbt sich von Jena
aus auf neue Stellen Charlotte von Kalb machte Hölderlin mit
Goethe und Herder bekannt und wollte, dass Hölderlin regelmäßig zu ihr
nach Weimar käme, was Hölderlin ablehnte, wollte er doch seine
Seminare und Vorlesungen bei Fichte nicht ständig unterbrechen. Auch
hatte Hölderlin seiner Mutter versprochen, dass er sich in Zukunft
selbst um sein Einkommen kümmern und ihr nicht mehr auf der Tasche
liegen wolle. Hölderlin wollte ggfs. auch Vorlesungen an der Uni
halten, dazu hätte er aber erst selbst einen Abschluss gebraucht.
Andere Dozenten hatten für ihre Tätigkeit als Seminarleiter und
Professor ebenfalls nicht unbedingt eine Vergütung erhalten, sodass
die finanzielle Situation generell schwierig war.
An der Uni erfuhr Hölderlin von einem Studenten, dass ein Frankfurter
einen Hauslehrer für seinen Sohn suche. Hölderlin schreibt am 22. Mai
1795 seiner Mutter, dass ihm durch Empfehlung eines Jenaer Studenten
eine Hofmeisterstelle in Frankfurt bzw. Offenbach angeboten wurde
(Große Stuttgarter Ausgabe, 6-1, S. 173). Eine weitere Stelle in
Kopenhagen fasste Hölderlin ebenso ins Auge wie sich als
Gesellschafter zeitweise zu verdingen. Auch an Neuffer schrieb
Hölderlin, dass er Jena verlassen wolle, er könne ja zu einem späteren
Zeitpunkt wiederkehren. Da das Geld, das die Mutter Hölderlin
geschickt hatte, langsam aber sicher zur Neige ging, auch weil
Hölderlin zuvor noch eine Fußreise nach Dessau, Halle/Saale und
Leipzig unternommen hatte, bewarb sich Hölderlin schließlich auch bei
Gontards, d.h. auf seiner Heimreise nach Nürtingen hatte sich
Hölderlin mit Dr. Ebel in Heidelberg getroffen, ein guter Bekannter
der Gontards, der ihn empfahl. Cotta in Tübingen sollte Hölderlin noch
bis September Geld für ein unbedeutendes Manuskript auszahlen, wodurch
Hölderlin sich noch hätte versorgen können. Allerdings waren solche
Honorare eben nur ein Tropfen auf den heißen Stein und keine Garantie
für ein regelmäßiges Einkommen.
Hölderlin hatte Jena nicht grundlos und überstürzt verlassen wie
Kritiker meinen, sondern musste erst einmal nach Hause gehen, weil er
in Jena keine sichere Einkommensquelle mehr hatte und Gontards sich
mit ihrer Zusage lange Zeit ließen.
Sobald Hölderlin wieder zu Hause war, bereute er gleich darauf seinen
Entschluss, Jena verlassen zu haben. Er schrieb, dass es die dümmste
Idee gewesen wäre, wieder heim ins Land zu kommen. Die Mutter bemerkte
Hölderlins Nervosität und Unmut. Er fing an, von morgens bis abends
wie besessen zu dichten, was die Mutter natürlich nicht verstand,
glaubte sie doch, dass Hölderlin jetzt die Kirchenlaufbahn einschlage.
Sie hatte ihm erneut zwei offene Vikarstellen in nahegelegenen
Pfarreien empfohlen.
Mit der Kirche im Nacken saß Hölderlin auf glühenden Kohlen, weil er
schnellstens neue Gedichte brauchte, um sie Schiller zur
Veröffentlichung zu schicken. Er wollte unter keinen Umständen den
beruflichen Kontakt über die Entfernung abbrechen lassen und schon gar
nicht Pfarrer werden, sodass er wieder Zeit gewinnen musste, indem er
der Mutter sagte, er plane noch eine Literaturreise nach Italien,
hätte viele Ideen für Gedichte und sich erneut als Hauslehrer bei der
Bankiersfamilie Gontard in Frankfurt beworben.
Familie Gontard ließ sich also mit der Zusage einige Monate Zeit, und
daher fiel Hölderlin ein Stein vom Herzen, als er endlich seine neue
Stelle in Frankfurt antreten konnte. Er hatte sich sozusagen in die
Arme Susettens gerettet, wie Susette in einem ihrer Briefe richtig
erkannte.
10. Januar 1796 - Hölderlin tritt seine
Hofmeisterstelle in Frankfurt an Hölderlin tritt seine neue
Hauslehrerstelle bei Bankier Jakob Gontard in Frankfurt an und ist von
dessen liebreizenden Ehefrau Susette sofort fasziniert. Mit dem Sohn
Susettens, seinem Zögling Henry Gontard, versteht sich Hölderlin auf
Anhieb ausgezeichnet.
Im Mai 1796 begibt sich Familie Gontard in ihr Sommerdomizil, ein
Landhaus östlich der Stadt gelegen. Hölderlin und Susette genießen die
Sommerfrische und "ungestörte Stunden, in denen beide im himmlischen
Frieden nebeneinander leben". Zu diesem Zeitpunkt waren sie schon
längst ineinander verliebt.
Als am 2. Juli die Rhein-Mosel-Armee in Württemberg einfällt, macht
sich Hölderlin um seine Familie in Nürtingen natürlich große Sorgen.
Am 10. Juli müssen Susette und ihre vier Kinder mit Hölderlin und der
Gouvernante Marie Rätzer Frankfurt verlassen, weil auch dort die
Belagerung droht. Bankier Gontard bleibt in Frankfurt. Susette will
zunächst zu ihren Eltern nach Hamburg gehen. In Kassel entscheidet sie
sich plötzlich um und alle gehen nach Bad Driburg, wo sie bei einem
Freund des Hauses Gontard wohnen können, der ein großes Anwesen hat.
Man vermutet, dass Susette die Chance ergriffen hatte, mit Hölderlin
noch ungestörter zu sein. Dort kommt Hölderlin auch in den Genuss der
Mineralwasserquellen.
Zwischen Kassel und Bad Driburg
Hölderlin schreibt über seine Reiseeindrücke im Brief, dass er
"wilde schöne Landschaften" gesehen habe, sogar den Brocken aus der
Ferne.
In Bad Driburg genießen Hölderlin und Susette lange Spaziergänge und
intime Gespräche, sitzen bis tief in die Nacht beim Wein zusammen.
Spätestens dann hatten sie die Gelegenheit, sich auch körperlich
näherzukommen. Die Beziehung zu Susette war für Hölderlin etwas ganz
Besonderes, geradezu etwas Göttliches, und entwickelte sich durch
das tiefe und innige Gefühl der Liebe, die Hölderlin zuvor nur in
seinen Träumen, wie er schrieb, aber noch nie mit einer Frau aus
Fleisch und Blut erlebt hatte und bis zu seinem Tod auch nicht mehr
erlebte.
Marie Rätzer, die Gouvernante der Töchter Susettens, bleibt nicht
verborgen, dass Susette und Hölderlin oft beisammen sitzen. Was sie
nicht weiß, ist, dass Hölderlin mit Susette auch am 'Hyperion'
arbeitet. Susette ist ihm eine gute Ratgeberin, wie die Geschichte
erzählt werden soll. Sie überlegen, ob Hölderlin die 'Diotima' sterben
lassen soll oder nicht. Letztlich entscheidet sich Hölderlin aus
dramaturgischen Gründen doch für den Tod 'Diotimas' und bittet Susette
deshalb um Verzeihung. Nachdem 'Hyperion' 1797 gedruckt war, schenkte
Hölderlin Susette ein Exemplar beider Teile des 'Hyperion' mit der
Widmung "Wem sonst als Dir".
Zurück in Frankfurt beobachtet Marie Rätzer im Hause Gontard Hölderlin
und Susette weiterhin neugierig und erzählt alles brühwarm weiter. Sie
mag einen gewissen Anteil daran haben, dass Bankier Gontard nach fast
zwei Jahren Wind von der heimlichen Liebesbeziehung seiner Frau
Susette mit Hölderlin bekam.
Hölderlin schreibt in einem Brief, dass die Frankfurter Gesellschaft,
die reichen, satten Bankiers und Geschäftsleute unangenehme,
respektlose und freudlose Zeitgenossen seien. Sie behandelten
Hölderlin nicht wie einen Gelehrten, sondern wie einen Dienstboten.
Selbst Hölderlins zweiter Arbeitgeber, Bankier Jakob Gontard
persönlich, nannte Hölderlin im Beisein Susettens einen "Domestiken",
was das Fass zum Überlaufen brachte. Hölderlin durfte z.B. nie mit den
Herrschaften und deren Gäste an der Tafel speisen, sondern musste in
der Gesindeküche sein Abendbrot einnehmen, was er nicht tat, sondern
sich eine Kleinigkeit auf sein Zimmer bringen ließ.
Die Frankfurter Kaufleute im Besonderen bezeichnete Hölderlin sogar
als bösartig. An wen er da wohl dachte? Hölderlin schien den Meininger
Kaufmann Ernst Schwendler jedenfalls auch nicht besonders leiden zu
können, als er Schwendler 1797 in Frankfurt bei einem Konzert antraf
und Schwendler ihn in ein langes Gespräch verwickelte. Mag auch sein,
dass Schwendler lästerte und Charlotte von Kalb erzählt hatte, dass
sich Hölderlin mit der Frau seines neuen Arbeitgebers, Susette
Gontard, viel zu gut verstünde. Ein Grund mehr, dass Charlotte von
Kalb in ihrer gekränkten Eitelkeit auf Hölderlin erst recht wütend
gewesen sein könnte, weil Charlotte bei Hölderlin zuvor nicht landen
konnte.
Hölderlin hatte sich in seiner Zeit in Frankfurt immer wieder an
Schiller und andere gewandt und spielte mit dem Gedanken, wieder nach
Weimar und Jena zurückzugehen. Susette wurde auf Charlotte von Kalb
eifersüchtig, als Hölderlin ihr erzählte, wie es ihm mit der Majorin
in seiner Zeit als Hofmeister in Jena erging. Susette sagte, das alles
käme nur davon, weil "Weimar eine halbe Tagesreise von Jena entfernt"
sei - ca. 4 Stunden, also zur damaligen Zeit nur einen Steinwurf. Wenn
Hölderlin Jena damals nicht verlassen hätte, hätte er ständig springen
müssen, wenn Charlotte es befiehlt.
Susette, die in der Gesellschaft als gutaussehend galt und eine
geradezu "strahlende Erscheinung" gewesen sein soll, hatte einen
besonderen Verehrer, einen der vielen Kaufmänner, der oft bei Gontards
eingeladen war. Sie versicherte Hölderlin, dass dieser Verehrer "nur
ein Freund" sei. Mag sein, dass es sich genau um diesen Ernst
Schwendler handelte, der Hölderlin seine Liebe zu Susette nicht gönnte
und Hölderlin gehässigerweise deshalb noch eine Affäre mit Wilhelmine
Kirms andichten wollte.
Hölderlins Zögling Henry Gontard war derjenige, der Hölderlin
liebevoll "mein Holder" nannte und ihm schriftlich mitteilte, dass er
es zutiefst bedauere, dass Hölderlin ihn nicht mehr unterrichten
würde, nachdem die Beziehung zwischen Hölderlin und Susette nach zwei
Jahren aufgeflogen war und Bankier Gontard seiner Frau Susette befahl,
Hölderlin rauszuwerfen. Das hatte sowohl Susette, die von Natur aus
sensibel und ein wenig trübsinnig und in ihrer Vernunftehe natürlich
sehr unglücklich war, als auch Hölderlin sehr geschmerzt. Susette
schreibt, dass sie "wohl oft bittre, bittre Tränen" weine, "aber eben
diese Tränen sind es", die sie erhalten und trösten.
Hölderlin und Susette wussten beide schon von Beginn an, als sie sich
verliebten und alle Grenzen überschritten, dass ihre Liebe keine
gemeinsame Zukunft haben würde. Hölderlin wünschte sich in den
"seeligen Stunden unserer ersten ganz neuen Liebe", wie Susette diese
Annäherung beschrieb, dass dieses Glück doch wenigstens ein halbes
Jahr lang anhielte.
Hölderlin blieb zunächst in der Nähe Susettens, sodass sie sich zu
bestimmten Zeiten, die aber eher selten waren, auch mal kurz sehen
konnten. Jakob Gontard verbot seinem Sohn Henry den Kontakt zu
Hölderlin, doch Susette blieb mit Hölderlin heimlich per Brief in
Kontakt, immer in der Angst, entdeckt zu werden, sodass sogar Henry
manchmal trotzdem den heimlichen Briefboten spielte:
"So wie ich dich liebe, wird dich nichts mehr lieben!" ~ Susette an
Hölderlin
"Weil ich dich liebhabe und weil ich so lange schwieg..." ~ Hölderlin
an Susette
Von Frankfurt am Main nach Bad Homburg - 1798
bis 1800Hölderlin hatte seine bestimmten Orte um Homburg
herum, von wo aus er Frankfurt sehen konnte.
Mitte September 2020 wurde an Hölderlin mit einem Street Art-Projekt
erinnert. In der Fußgängerzone lag eine Zeichnung Hölderlins auf dem
Boden, die vom markierten Fotopunkt aus betrachtet dreidimensional
erschien: Hölderlin saß auf einem Schemel und schnürte sich seine
Wanderschuhe zu, eine rote Rose im Gepäck, auf dem Weg, seine
geliebte Susette in Frankfurt heimlich zu treffen.
Bad Homburg hat einen 22 km langen 'Hölderlin-Pfad' ausgewiesen, der
in der Dorotheenstraße 34, wo Hölderlin einst wohnte, beginnt und in
Frankfurt am Goethe-Haus endet.
15. Januar 1801Hölderlin trat eine
Hauslehrerstelle beim Textilfabrikanten Anton von Gonzenbach in
Hauptwil in der Schweiz an. Er sollte die beiden jüngsten Töchter
unterrichten, die fast schon 14 und 15 Jahre alt waren. Desweiteren
war geplant, dass Hölderlin noch zwei Neffen Gonzenbachs
unterrichten sollte, aber das hatte sich zerschlagen, sodass
Gonzenbach mit Bedauern Hölderlin Mitte April entlassen musste.
Hölderlin schreibt, dass es in Hauptwil sehr ruhig sei, also kann er
die Zeit gut nutzen, um nicht nur Geld zu verdienen, sondern auch
Oden, Elegien und Gesänge zu schreiben. In dieser kurzen Zeit ist
Hölderlin unglaublich produktiv, und da er ja auch noch in andere
Länder wie Frankreich und Italien reisen wollte, kam ihm wohl der
Abschied aus der Einöde ganz gelegen.
Hölderlin war in Konstanz über die Grenze in die Schweiz eingereist, auf der Heimreise mit einem Ruderboot über den Bodensee nach Lindau gefahren und dann wieder zurück nach Stuttgart zu seinen Freunden gewandert. Hölderlin hatte sich mit der Familie Gonzenbach sehr gut verstanden, hatte natürlich aber auch seine Freunde vermisst.
Atlantikküste nahe BordeauxHölderlins
Freund Friedrich von Matthisson dichtete folgenden Text, der
unter Beethoven vertont wurde: "Ich denke dein".
Ich denke dein, [Wenn]1 durch den Hain Der Nachtigallen Akkorde
schallen!
[Wann]2 denkst du mein? Ich denke dein Im Dämmerschein Der
Abendhelle Am Schattenquelle! Wo denkst du mein? Ich denke dein Mit
süßer Pein, Mit bangem Sehnen Und heißen Thränen! Wie denkst du
mein?
[O denke mein,]3 Bis zum Verein Auf besserm Sterne! In jeder Ferne
Denk' ich nur dein!
28. Januar 1802Hölderlin wanderte im
Winter mit einer Schusswaffe bewaffnet durch das Feindesland
Frankreich, trifft nach einer wochenlangen unwegsamen und gefährlichen
Reise tatsächlich wohlbehalten in Bordeaux ein und tritt seine neue
Hofmeisterstelle beim Hamburger Konsul Daniel Christoph Meyer an.
Konsul Meyer ist Weinhändler und hat in Blanquefort (nordwestlich von
Bordeaux) seinen Landsitz mit eigenem Weingut, was Hölderlin natürlich
interessiert, war doch sein Stiefvater ebenfalls Weinhändler in
Nürtingen gewesen. Es dürfte Hölderlin auch interessiert haben zu
sehen, wie der Wein in Fässern in die Welt verschifft wurde. Hölderlin
hatte auf seiner Reise 1788 über Speyer auch schon sehr genau die
geschäftigen Hafenarbeiter in Lussheim bei Speyer beobachtet, wie sie
auf dem Rhein Schiffe ab- und aufluden.
In Bordeaux versteht sich Hölderlin mit seinem neuen Brotgeber sehr
gut, auch macht Hölderlin seine Erziehungsarbeit ausgezeichnet wie
Konsul Meyer im späteren Zeugnis schreibt. Dennoch wirke Hölderlin
deprimiert und sehe für sein Alter ziemlich alt aus - als wäre
Hölderlin über Nacht gealtert. So ähnlich berichten es die Leute in
Bordeaux, die Hölderlin neugierig beäugen, weil er ein Fremder ist.
Sie sagen, dass Hölderlin oft müde und erschöpft, traurig und
bekümmert wirke, immer wieder sehnsüchtig in die Ferne schaue. Einen
richtigen Zugang finden sie zu ihm nicht.
Eines Tages kündigt Hölderlin ohne Vorwarnung und ersichtlichen Grund.
Am 22. Mai 1802 verlässt er Bordeaux, besucht auf der Heimreise das
Kunstmuseum Musée Napoléon in Paris und geht dann vermutlich direkt
nach Frankfurt, um seine Susette zu sehen.
Der Grund für Hölderlins plötzlichen Aufbruch aus Bordeaux kann ich
mir nur damit erklären, dass Hölderlin erstens allgemein Heimweh nach
seinem Vaterland, seinen Freunden und seiner Familie hatte. Bordeaux
war eben schon sehr weit von zu Hause entfernt und damals gab es weder
Bildtelefon noch Email - nur die gute alte Postkutsche, die manchmal
im Schlamm steckenblieb oder überfallen wurde, sodass Nachrichten sehr
zeitverzögert oder auch gar nicht den Empfänger erreichten.
Der Hauptgrund, denke ich, war aber die Sehnsucht nach Susette. Ohne
sie hatte Hölderlin keine wahre Freude am Leben. Es ist eben nicht
gut, wenn der Mensch ständig alleine ist, vor sich hin grübelt und
alles mit sich selbst ausmachen muss, weder Freude noch Leid mit einem
geliebten Menschen teilen kann. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie
gerne er mit Susette die schöne Landschaft, das Meer und den Wein
genossen hätte. Wenn Susette wegen ihrer vier Kinder, die natürlich
noch ihre Mama brauchten, nicht bei ihrem ungeliebten Ehemann Jakob
Gontard hätte bleiben müssen, wäre sie mit Hölderlin vielleicht an
einem anderen Ort in einem anderen Land glücklich geworden (wie im
'Hyperion' schon als Traum beschrieben). "Die höchste Leidenschaft der
Liebe erfährt auf Erden ihre Befriedigung nie", wie Susette schrieb.
Vielleicht hatte Hölderlin dazu noch eine böse Vorahnung, nämlich,
dass es Susette nicht gut ging - so ähnlich beschrieb es Hölderlin ja
schon in seinem 'Hyperion'. Der Schock muss daher umso tiefer gesessen
haben, als Hölderlin Ende Juni vom Tod Susettens erfuhr, weil sich der
Tod der 'Diotima' in Hölderlins 'Hyperion' bewahrheitet hatte.
1804 - 1805 Das Foto zeigt das Haus,
in dem Hölderlin von 1804 bis 1805 wohnte, bis er vom Vermieter
wegen Ruhestörung rausgeworfen wurde. Hölderlin hatte das völlig
verstimmte Klavier, das man ihm geschenkt hatte, wohl ziemlich
malträtiert. Er war wütend, weil er nicht ordentlich darauf spielen
konnte. Eine Gedenktafel an diesem Haus besagt, dass es 1986 wieder
aufgebaut wurde.
Danach lebte Hölderlin bis zu seinem gewaltsamen Abtransport noch in
der Haingasse 12. Das Haus existiert aber nicht mehr.
Museum Sinclair-Haus Bad Homburg In
der Dorotheenstraße stehen Häuser weiterer Persönlichkeiten,
darunter auch das ehemalige Wohnhaus Sinclairs gegenüber vom
Schlosspark, heute Museum Sinclair-Haus (Foto).
11. September 1806 Hölderlin wird aus
Homburg ohne Zwischenhalt bei der Mutter in Nürtingen mit Gewalt in
die Klinik nach Tübingen gebracht. Man wolle "ihm dabei auch gleich
die Poesie aus dem Kopfe treiben".
Anfang Mai 1807 wird Hölderlin zum Sterben entlassen. Man gibt ihn
Schreinermeister Ernst Zimmer und seiner Frau in Pflege, dem
Hölderlins Schicksal sehr nahe geht. Nach Zimmers Tod versorgt
dessen Tochter Charlotte Zimmer ("Jungfer Loddl") Hölderlin und ihre
alte Mutter.
Das Foto zeigt das Haus der Familie Zimmer, wo Hölderlin im ersten
Stock das Turmzimmer mit Blick auf den Neckar bewohnte. Weitere
Räume wurden den Tübinger Studenten vermietet.
Den Briefen Ernst Zimmers aus der Nürtinger Pflegschaftsakte ist zu
entnehmen, dass Hölderlin Wein und Schnupftabak konsumierte. Im
Sommer stand Hölderlin bei Tagesanbruch auf, um im Hausflur auf und
ab zu laufen, denn er hatte noch immer einen Bewegungsdrang und
konnte sich so am besten körperlich fit halten.
Der Dichter Wilhelm Waiblinger, der in Tübingen ab 1822 Theologie am
Evang. Stift studierte, besuchte Hölderlin im Turm regelmäßig und
lud ihn sogar ein, mit auf Literaturreise nach Italien zu gehen, was
Hölderlin aber ablehnte. Er bliebe lieber zu Hause.
Nachmittags genoss Hölderlin seinen Kaffee und gelegentlich eine
Zigarre zusammen mit Christoph Schwab, der Hölderlin besonders in
den letzten Lebensjahren regelmäßig besuchte, wie Pierre Bertaux in
seinem Buch erzählt. Hölderlins Freunde sollen ihn auch manchmal zum
nahegelegenen Biergarten mit Blick über Tübingen (siehe Foto)
mitgenommen haben. Wenn Hölderlin in Begleitung den Turm verlassen
durfte und dann jemandem aus der Psychiatrie auf der Straße
begegnete, wurde er wütend und wollte auf denjenigen losgehen.
Abends um 7 Uhr speiste Hölderlin mit großem Appetit, um gleich
danach zu Bett zu gehen.
Im Winter spielte Hölderlin die meiste Zeit gerne auf dem Klavier
und sang, manchmal auch zusammen mit den Studenten im Haus. Wenn
jemand einen Walzer spielte, wurde Hölderlin fröhlich und fing zu
tanzen an, was alle belustigte (zit. nach Ernst Zimmer).
Besonders in den ersten Jahren im Turm war Hölderlin unruhig und
aggressiv, ängstlich und menschenscheu. Die unsinnige
Psychotherapie, die nur als Folter und reine Gewalterfahrung benannt
werden kann, hatte Hölderlin traumatisiert, aber mit den Symptomen
einer posttraumatischen Belastungsstörung wie Angstzustände, Unruhe
und gesteigerte Wachsamkeit, Schlafstörungen, Depression und
Aggression sowie ein generell gestörtes Bild von sich selbst und der
Welt kannten sich die Ärzte im 19. Jahrhundert natürlich noch
überhaupt nicht aus. Selbst bis heute im 21. Jahrhundert sind noch
nicht alle Symptome und körperlichen Abläufe, die bei einer PTBS
auftreten, bekannt und somit noch nicht abschließend behandelbar.
Daher ist es noch heute dreist zu behaupten, dass Hölderlin von
Geburt an unheilbar wahnsinnig gewesen wäre.
Nervenärzte deuteten damals ein solches Verhalten als Symptome einer
Schizophrenie und glaubten, Hölderlin sei schon von Geburt an krank
gewesen, was wir heute ebenfalls als üble Nachrede und Häme werten.
In unserem Stammbaum und der Familienchronik kennen wir niemanden,
dem überhaupt eine (angeborene) Geisteskrankheit bescheinigt worden
wäre. Schizophrenes Verhalten, das Hölderlin spätestens seit seiner
Hauslehrertätigkeit im Schloss Waltershausen angedichtet worden war,
zeigt sich u.a. in Denk- und Sprachstörungen. Alles, was Hölderlin in
seinen Werken und Briefen bis zu seiner Entführung geschrieben hatte,
kann ich verstehen und nachvollziehen. Er hatte nie etwas geschrieben,
getan oder gesagt, das ich nicht nachvollziehen könnte. Im Gegenteil.
Er war sprachlich sehr viel gewandter als ich es wohl je sein werde.
Er konnte auch abstrakte und abgehobene Dinge beschreiben, die ich
vollkommen verstehe. Hölderlin war gebildet und konnte schreiben. Mit
seinem großen Wissen kann vielleicht nicht jeder mithalten. Wer
glaubt, ihn nicht verstehen zu können, muss wohl oder übel Wörter,
Namen und Hintergründe recherchieren, was ich auch gemacht habe.
Letztlich bin ich dann zur Erkenntnis gekommen, dass wir uns im Denken
und Wahrnehmen von Gott und der Welt doch sehr ähnlich sind. Wenn er
denkt und schreibt, ist es, als säße ich neben ihm. Hölderlin ist für
mich eine außerordentliche geistige Bereicherung und Inspiration, die
ich in diesem (meinem) Leben nicht mehr missen möchte.
Vielleicht unterschrieb Hölderlin im Turm auch gerade deshalb seine
Gedichte mit anderen Namen, weil er sich selbst im Turm nicht mehr als
der frühere Hölderlin sah. Man hatte in der Anstalt aus ihm quasi
einen anderen Menschen gemacht und sich dadurch eines großartigen
Dichters und Mitmenschen beraubt.
Oftmals tobte Hölderlin sogar nachts um 3 Uhr und weckte das ganze
Haus auf, schlug mit der Faust auf den Tisch, fluchte und schimpfte
auf Professoren oder das Konsistorium, das ihm den ganzen Schlamassel
überhaupt erst eingebrockt hatte - daher kann ich auch seine Wut auf
die Kirche sehr gut verstehen. Was kann Hölderlin dafür, dass er von
Geburt an unfrei war und in eine Zeit voller Barbaren geboren wurde?
Mit den Jahren wurde er zwar ruhiger und umgänglicher, aber er mochte
es einfach nicht, wenn Fremde ihn besuchen wollten, weil er nach
seinen schlimmen Erfahrungen Unbekannten verständlicherweise nicht
mehr über den Weg traute.
Hölderlin war ein unbeugsamer und weiser Mann, der sich zeitlebens
mit der Kirche angelegt hatte.
Nachdem einige Zeit vergangen war, wurde nochmal eine Untersuchung
anberaumt. Die Ärzte sollten feststellen, ob Hölderlin genesen sei.
Man hatte auch schon eine Verwandte der Mutter auserkoren, die
Hölderlin heiraten sollte. Eberhardine Blöst war die Auserwählte.
Hölderlin wusste aber auch diese Dame zu umgehen, sodass schließlich
sein Bruder Karl sie ehelichte. Nein, Hölderlin wollte keine andere
Frau außer Susette Gontard. Und er wollte seine Ruhe vor diesen
Barbaren !
Als Immanuel Nast, der Cousin von Hölderlins ehemaliger Verlobten
Luise Nast aus Maulbronn, als Amtsperson im Zuge des
Erbschaftsstreits, den Hölderlins Geschwister Heinrike und Karl nach
dem Tod der Mutter Johanna 1828 begannen, zu Hölderlin in den Turm
kam, war Nast beim Wiedersehen mit Hölderlin so ergriffen, dass er ihm
"weinend wie ein Kind" um den Hals fiel, wie Ernst Zimmer selbst mit
Betroffenheit in seinem Brief bezeugte. Immanuel Nast war zutiefst
darüber bestürzt, was Hölderlin angetan wurde.
Die Geschwister Hölderlins bekamen schließlich ihren Erbteil,
Hölderlin starb dennoch als wohlhabender Mann.
Die Tatsache, dass Hölderlins Mutter ihn nie im Turm besucht hatte,
liegt vermutlich daran, dass es ihr die Kirche untersagte. Das war die
Strafe für Hölderlin, weil er ungehorsam war. Die Kirche hatte umsonst
viel in ihn investiert, um ihn als Pfarrer auszubilden. Wenn Ernst
Zimmer Hölderlin sagte, er könne doch seiner Mutter schreiben, dann
schrieb Hölderlin nur ein paar Zeilen und unterschrieb mit "Ihr
gehorsamer Sohn". Ich denke, dass Hölderlin die Lage akzeptiert hatte,
so wie sie war. Es hätte für ihn und die gesamte Familie sonst auch
noch sehr viel mehr Nachteile haben können.
Am 16. April 1828 schrieb Ernst Zimmer an den Herrn Amtspfleger: "Ich
weiß nicht ob Sie den Lieben Unglüklichen Hölderlin können, und
Antheil an Ihm nehmen, Er verdient es gewiß in jeder Rüksicht. Die
neusten Tag Blätter nennen Ihn den ersten Elegischen Dichter
Deutschlands, schade vor Seinen herlichen, und großen Geist, der jezt
in Feßlen liegt. Auch sein Gemüth ist so reuch, so tief, und so edel,
daß mann selten einen Sterblichen finden wird der Ihm gleicht. Da
Seine Edle nun Volendete Muter, schon lange vor Ihrem Hingang, für
Seine Bedürfniße hinlänglich gesorgt, wie Sie es mir auch mehrere mahl
geschrieben hat, so ist es, Traurig das mann Ihm nicht einmahl daß was
Seine Muter für Ihn angeordnet hat, zuerkennen will, und auch da Ihn
noch daß Schiksal verfolgt. Was wird Sein künftiger Biograf sagen, der
wie ich hofe nicht ausbleiben wird, über diese Geschichte. [...]"
(Scheuffelen & Wagner-Gnan, "... die Winter Tage bringt Er
meistens am Forte Piano zu...", Seite 10-13, aus der Pflegschaftsakte
Hölderlin im Nürtinger Stadtarchiv)
Beim Lesen der Briefe Hölderlins war ich auch zu der Ansicht gekommen,
dass Hölderlin ein edles Gemüt hatte und ein sehr feiner Mensch war,
dem man nicht alle Tage begegnet. Ernst Zimmer stimme ich voll und
ganz zu und bin dankbar, Hölderlin auf meinem Stammbaum zu haben. Es
ist für mich eine Ehre und ein wahres Bedürfnis, über ihn und weitere
gemeinsame Verwandte zu berichten.
07. Juni 1843Johann Christian
Friedrich Hölderlin stirbt nachts um 11 Uhr im Alter von 73 Jahren.
Lotte Zimmer hatte nicht damit gerechnet, obwohl Hölderlin durch
seine Erkältung geschwächt war. Sie bescheinigt ein "sanftes
Hinscheiden". Christoph Schwab ruft die Studenten auf, an der
Bestattung teilzunehmen. Das Foto zeigt Hölderlins Grab auf dem
Tübinger Friedhof.
10. Juni 1843Christoph Schwab hält die
Grabrede und dankt insgeheim dem Himmel, dass ein heftiger
Gewitterregen herniedergeht, sodass nur diejenigen Hölderlin die
letzte Ehre erweisen, die echten Anteil nehmen. Sobald Hölderlin
unter der Erde war, "brach die volle Sonne durch die Wolken".
(Gottlob Kemmler, Freund von Christoph Schwab, der die Elegie 'Auf
Hölderlins Grab' schrieb.)
Das Bild zeigt Karl Goks Gedenkschrift an seinen lieben Bruder
Friedrich.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Grabsteins steht:
"In heiligsten der Stürme
falle zusammen
meine Kerkerwand,
und herrlicher und freier
walle mein Geist
ins unbekannte Land."
19. August 2020Das Bild zeigt das Hölderlingrab im August 2020. Anlässlich des Jubiläums wurde die Grabstelle aufpoliert. Der alte morsche Birnbaum hinter dem Grabstein, unter dem Hölderlin damals auf den Spitaläckern begraben wurde, ist komplett entfernt worden sowie das schöne nostalgische Efeu, das Baum und Grabfläche bedeckte. Die grüne Begrenzung wurde mit Bodendeckern und einer neuen Eiben-Hecke erweitert, der Grabstein gesäubert und bröckelnde Ecken mit Spachtelmasse wieder neu modelliert. Hinter der Grabstelle wurde ein neuer Baum gepflanzt, der hoffentlich genauso groß und schön wird wie der alte.
Hölder-Wein aus Schloss NeuenburgDas
Foto zeigt Schloss Neuenburg in Freyburg an der Unstrut.
Die dortige Winzervereinigung baut an den Hängen des Schlosses den
Weißwein 'Hölder' an.
Zu Ehren Friedrich Hölderlins und der Stadt Lauffen am Neckar
züchtete 1955 August Herold an der Staatlichen Lehr- und
Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau in Weinsberg im Landkreis
Heilbronn diese neue Rebsorte, indem er Riesling und Ruländer
(Synonyme: Grauer Burgunder, Pinot gris) kreuzte, woraus ein
fruchtiger Weißwein entstand.
In den Weinbergen entlang der Flüsse Saale und Unstrut findet der
'Hölder' heutzutage wohl beste Bedingungen.
Der goldene 'Hölder' gehört natürlich zu meinen Lieblingsweinen, und
ich bin mir sicher, dass er Hölderlin auch geschmeckt hätte.
20. März 2020 Anlässlich des 250.
Wiegenfestes unseres lieben Ahnen und Familienmitglieds Johann
Christian Friedrich Hölderlin gedenken wir ihm in aller Stille, in
tiefer Liebe und seelischer Verbundenheit. Wir freuen uns für ihn,
dass er seinen unverbrüchlichen Glauben an Gott und seine Liebe zur
Menschheit nie verloren hat.
Hölderlin hat sein Schicksal auf Erden in Demut angenommen, weil er
wusste, dass er geliebt wird und es für sein Seelenheil so und nicht
anders richtig ist, weil von Gott so gewollt... "Denn der hat viel
gewonnen, der das Leben verstehen kann, ohne zu trauern.", wie
Hölderlin einmal sagte.