Sein Leben

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"Ich bin ein Mann von Grundsätzen!"

Diesen Satz schrieb Friedrich Hölderlin über sich selbst in einem seiner Briefe. Seine Geradlinigkeit und Unbestechlichkeit sowie sein überaus starker Wille haben sich wie ein roter Faden durch sein ganzes Leben gezogen.


Friedrich Hölderlin war zeitlebens ein Opfer von Verleumdungen und übler Nachrede.
Die daraus entstandene, verzerrte Wahrheit über Hölderlin als ein Mensch wie du und ich, die sich bis heute in den Köpfen der Menschen hält, wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts durch konsequentes Missachten und Verschweigen von belegten Tatsachen aufrechterhalten.

Im Rahmen unserer langjährigen Ahnenforschung und nach eingehender Studie verfügbarer Literatur, Briefe und Dokumente, vornehmlich aus dem 18. und 19. Jahrhundert, waren wir im Mai 2020 zu neuen Erkenntnissen gekommen.
Als Verwandte Hölderlins sehe ich es nicht nur als meine Pflicht an, das gängige Hölderlinbild zurechtzurücken. Es ist mir geradezu ein Bedürfnis, seine Ehre wiederherzustellen und sein Andenken zu bewahren.


Die wichtigsten 3 Punkte vorweg, die auf dieser Seite nachfolgend näher erläutert werden:


1. Hölderlin war weder krank noch verrückt.
Hölderlin war ein Opfer politischer und kirchlicher Verfolgung, einer gewaltsamen Entführung ohne rechtliche Grundlage und ethisch fragwürdiger, medizinischer Experimente des Dr. Autenrieths aus Tübingen, der Hölderlin wie ein wildes Tier in einem Käfig gefangen hielt, wie auch die SWR-Dokumentation 'Friedrich Hölderlin - Dichter sein. Unbedingt!' meiner Meinung nach sehr eindrucksvoll zeigt.
Die Hölderlinforscher Adolf Beck und Pierre Bertaux zitieren in ihren Büchern die Landgräfin von Hessen-Homburg, die Hölderlin "den armen Holterling" ("le pauvre Holterling") nannte und im September 1806 seinen Abtransport im Brief an ihre Tochter mit den Worten beschrieb, Hölderlin habe im Kampf seinem Entführer das Gesicht blutig gekratzt. Leider vergeblich wie wir wissen.
Die barbarische und völlig unsinnige "Psychotherapie" mit Quecksilber und anderen giftigen Substanzen war nichts anderes als körperliche und seelische Folter, was die Menschheit seit jeher von der weltlichen Kirche kennt. Die Therapie mit der Quecksilberverbindung Kalomel beschreibt 2017 der Pharmakologe Reinhard Horowski in seinem Buch 'Hölderlin war NICHT verrückt'.
Mein armer Verwandter Friedrich Hölderlin musste Todesängste ausstehen. Es grenzt für mich an ein Wunder, dass Hölderlin nicht nur überlebte, sondern sich mit den Jahren im Turm bei guter Pflege und robuster genetischer Konstitution weitgehend erholt hatte. Hölderlin überlebte sogar Dr. Autenrieth um 8 Jahre.
Hölderlins gelegentlich auffälliges Verhalten im Turm, z.B. seine Menschenscheu und Angstzustände, Aggression oder Schlafstörungen, beschreibt vielmehr die Symptome eines erworbenen Traumas, einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die ihm von den "Barbaren" (Bezeichnung aus 'Hyperion') durch die Folter zugefügt wurde. Mit der PTBS beschäftige ich mich seit 2007, auch mit Hilfe eines verwandten Psychologen als fachlicher Berater, der sich darauf spezialisiert hat und wegen seiner teilweise suizidgefährdeten Patienten namentlich ungenannt bleiben möchte. Dennoch meinen herzlichen Dank an ihn für wertvolle Informationen.
Reinhard Horowski beschreibt dazu in seinem Buch die körperlichen Spätfolgen der Therapie und erklärt, dass Hölderlins nächtliche Unruhe, Müdigkeit, Wutanfälle, Angst etc. durch die Langzeit-Vergiftung und durch eine Herzinsuffizienz im Alter ausgelöst wurde. Hölderlins Todesursache war demnach ein Herzinfarkt. Ich bin zwar keine Medizinerin, habe aber in meinem Studium der Angewandten Sprach-, Translations- und Kulturwissenschaft 5 Semester lang medizinische Vorlesungen und Seminare besucht, weil ich nicht nur ein Interesse an medizinischen Themen habe, sondern auch ein gewisses Verständnis in diesem Bereich mitbringe. Herrn Horowskis Ausführungen unterschreibe ich sofort und denke, dass Hölderlins traumatische Erlebnisse, angefangen vom plötzlichen Tod seiner geliebten Susette (Diotíma) bis hin zur gewaltsamen Entführung und Behandlung durch Autenrieth, die ähnliche Symptome auslösen, die körperlichen Beschwerden vielleicht noch verstärkt haben. Bei Hölderlin kam letztlich das geballte Unglück zusammen, sodass ich ihn verstehe, dass er sich von der barbarischen Welt da draußen zurückgezogen hatte und den Teufel tat, sich nochmal eine Braut und Pfarrstelle zuweisen zu lassen.

Die Kirche wollte Hölderlin gefügig machen lassen, quasi umerziehen, was in der Menschheitsgeschichte unbequemen Personen oft passierte und bis heute im 21. Jahrhundert wohl noch immer passiert, wenn man die Nachrichten hört und liest.
Hölderlin wurde als Demokrat und Befürworter der Schwäbischen Republik wohl nur deshalb die politische Gefangenschaft und ein gewaltsamer Tod (Hinrichtung) erspart, den andere Schriftsteller damals nicht nur während der Revolution in Frankreich erlitten, weil die Kirche viel Geld in ihn investiert hatte.
Dichtung verwirre das Gemüt und die Wahrnehmung der Welt, so die damals vorherrschende Meinung. Hölderlin sollte deshalb seine Poesie und freiheitlichen Gedanken vergessen und seine Schulden (das gesamte Schulgeld) bei der Kirche als Pfarrer auf Lebenszeit endlich abarbeiten. Hölderlins zweimal verwitwete Mutter Johanna Gok, die zum Pfarradel gehörte und der Kirche erst recht verpflichtet war, konnte ihrem Sohn zu ihrem Leidwesen nicht helfen. Auch ihr hatte niemand wirklich beigestanden. Ihr schlug eine Welle der Unbarmherzigkeit entgegen. Sie musste allein ihren Mann stehen und konnte kaum Mitgefühl und Empathie erwarten. Allein das Vertrauen in Gott hatte ihr und ihrem Sohn Kraft und Zuversicht gegeben.
Den lediglich mündlichen Überlieferungen der Vorfahren zufolge, musste Hölderlins Mutter Johanna Gok ihren Sohn in einer Art Holzkäfig ähnlich einem grobgeschnitzten Laufstall zurücklassen, was ihr das Herz zerriss. Mit "Holzkäfig", denke ich, meinten früher die alten Verwandten wohl das Palisadenzimmer, in das Hölderlin wie ein Tier mit Maulkorb und an Händen und Füßen gefesselt eingesperrt wurde. Hölderlin war als erster Patient in der neuen Klinik Autenrieths jedenfalls ein Versuchskaninchen. Man hatte ihm die Menschenwürde genommen und ihn als Objekt gesehen, auch später bei der Obduktion, die ohne Einverständnis der Familie durchgeführt wurde.
Die Mutter, die verpflichtet war, Hölderlin zu einer Pfarrstelle zu überreden, musste demnach die Befehle der Kirche ausführen. Sie wusste nicht, was passieren würde, sie wusste nur, dass sie jetzt gehen und ihren Sohn verlassen musste - wohl für immer, denn sie durfte ihn später auch nicht im Turm besuchen und Hölderlin durfte nicht bei ihrer Beerdigung in Nürtingen anwesend sein. Bei Hölderlins Beerdigung kamen nicht einmal ein paar Universitätsprofessoren, jedoch um die hundert Studenten erwiesen laut Adolf Beck Hölderlin die letzte Ehre. Die Geschwister Heinrike und Karl waren ebenfalls nicht bei der Beerdigung. Da beide aber auch schon betagt waren, Karl 6 Jahre und Heinrike 7 Jahre nach Hölderlin starben, darf man glauben, dass beide aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr allzeit reisefähig waren.
Hölderlin, der von Geburt an unfrei war, bewies damals innere Stärke, trotzte den Widrigkeiten des Lebens und entschied sich für einen steinigen und einsamen Weg, um seiner Berufung zum Dichter zu folgen. Dadurch hatte er letztlich den Kampf mit der Kirche gewonnen, denn er war nicht wie geplant Pfarrer geworden und hatte sich auch nie verheiraten lassen. Seine liebe Mutter vermachte ihm ihr ganzes Vermögen ungeachtet seiner beiden Geschwister Heinrike und Karl, weil sie ihn liebte und versorgt wissen wollte, wie auch Hölderlins Pflegevater Ernst Zimmer mit größtem Respekt bestätigte. Zumindest über ihren letzten Willen konnte sie in ihrem Testament frei entscheiden.
Die Kirche, die über Hölderlin eigentlich alle Macht besaß und ihn als ihr Eigentum betrachtete, hatte sich an ihm die Zähne ausgebissen und um als Institution in der Gesellschaft nicht als Verlierer zu gelten, entmündigte sie Hölderlin kurzerhand und stellte ihn zur Strafe für seinen Ungehorsam offiziell nur noch als einen von Geburt an unheilbar Wahnsinnigen dar, der angeblich nicht wusste, was er sagte, schrieb oder tat.
Diesen Tenor verbreiteten ab dem 20. Jahrhundert viele Leute in ihren Büchern, Abhandlungen und Vorträgen, um sich nicht selten auf Kosten Hölderlins zu profilieren. Hölderlin bis heute im 21. Jahrhundert leichtfertig als "krank" und "wahnsinnig" zu bezeichnen, ist nicht nur oberflächlich und ignorant, sondern schlichtweg die Fortsetzung der damals kaltherzigen und unmenschlichen Verhöhnung eines gläubigen und guten Menschen, der nach Ruhe, Frieden und Freiheit strebte, der mit seinen Werken auf den deutschen Charakter einwirken, aber mehr noch seine "nach Vollendung dürstende Seele sättigen" wollte. (Gr. StAg, 6-1, S. 263)

Friedrich Hölderlin wusste sehr genau, was er wollte und tat. Er scheiterte daher nicht an seinen Ansprüchen als Dichter, sondern hatte auf einem sehr ungewöhnlichen Weg des größten Widerstands tatsächlich sein Ziel erreicht:
Hölderlin ist nicht nur ein Dichter geworden, dessen Werke noch heute im 21. Jahrhundert gelesen werden, sondern er wird oftmals auch mit Goethe und Schiller in einem Zuge genannt, wie z.B. die Moderatorin der SWR-Sendung 'Ich trage einen großen Namen', Julia Westlake, sagte: "Er ist neben Goethe und Schiller einer der größten deutschen Dichter. Friedrich Hölderlins Oden, Elegien und Hymnen sind Meisterwerke der deutschen Lyrik." (SWR Fernsehen, Dt. Erstausstrahlung vom 22. März 2020)


2. Hölderlin war nicht geistig umnachtet.
Im Turm dämmerte Hölderlin nicht für den Rest seines Lebens vor sich hin. Er war auch kein unglücklicher, gebrochener Mann, sondern er akzeptierte sein Schicksal als Wille Gottes, liebte seine beschauliche Ruhe und Geborgenheit im Alter, seine kreative Fantasie in Form von Schreiben, Singen und Zeichnen und die gute Versorgung durch seine Pflegefamilie mit gutem Essen und Wein sowie Schnupftabak, Pfeife und Zigarre. Für ihn wurde extra ein Klavier angeschafft, weil er so gerne darauf spielte. Besonders im Winter verbrachte er seine Zeit, ja ganze Tage, am Klavier. Er hatte sich der Kirche nicht gebeugt, sondern genoss seinen Lebensabend zusammen mit der Hausgemeinschaft. Sein lieber Pflegevater Ernst Zimmer bezeugte in seinen Briefen, dass Hölderlin immer viel Fantasie besaß, sich beschäftigen konnte und noch nicht einmal seinen Humor und seine Lebensfreude verloren hatte. Wenn die Studenten, die mit ihm im Hause Zimmer wohnten, musizierten, dann fing Hölderlin zur Freude aller bei einem Walzer sogar fröhlich zu tanzen an (zit. nach Ernst Zimmers Briefen aus der Pflegschaftsakte Nürtingen, 1989).

Wie produktiv Hölderlin noch in seinen Turmjahren gewesen war, kam bei der Sichtung seines Nachlasses zum Vorschein. Hölderlin hatte etliche Blatt Papier feinsäuberlich aufbewahrt, laut Pierre Bertaux wohl an die tausend Seiten mit Texten, Skizzen und Entwürfen sowie Zeichnungen. Der Dichter und evangelische Pfarrer Eduard Mörike, der von der Kirche mit der Beurteilung des Nachlasses beauftragt war, hatte jedoch nur 49 Gedichte Hölderlins noch für würdig befunden, sie der Nachwelt zu hinterlassen. Alles andere wurde "waschkörbeweise", wie es damals hieß, aus dem Turm getragen und auf einem Haufen verbrannt, was ich zutiefst bedauere, denn es wäre für die Hölderlinforschung und besonders für mich als Verwandte sehr interessant zu sehen, mit welchen Themen sich Hölderlin im Alter noch beschäftigt hatte. Viele Texte waren ja noch nicht komplett ausgearbeitet, die hätte man im Laufe der Zeit vielleicht vollenden können. Ich denke, es war sogar Hölderlins bewusste Absicht, seine vielen Ideen zumindest noch zu skizzieren und bei sich zu lagern, um der Nachwelt weitere Denkanstöße zu geben.
Eduard Mörike hatte zeitlebens mit seinem Brotberuf als Pfarrer gehadert, denn er hätte sich wohl auch lieber voll und ganz der Dichtung gewidmet - und genau das wollte Hölderlin für sein Leben eben nicht. Hölderlin wollte keinen verpassten Chancen ewig nachtrauern, sich gemäß seines Naturells zu entfalten, um seiner Bestimmung zu folgen.

Selbst direkt nach Hölderlins Tod im Jahre 1843, so komme ich zur traurigen Erkenntnis, wollte man Hölderlin wohl noch immer nicht für seine Lebensleistung als Dichter respektieren und zugeben, dass sich Hölderlin mit seiner Weigerung Pfarrer zu werden, im Grunde gegen die mächtige Kirche durchgesetzt hatte. Die Mitmenschen in Tübingen hatten kaum mitbekommen, was Hölderlin den ganzen Tag im Turm gemacht hatte, deshalb gab es wie immer Klatsch und Tratsch.
Die Kirche schien wohl zu glauben, sie könne weiterhin den Schein aufrechterhalten, Hölderlin hätte in seiner zweiten Lebenshälfte vor sich hinvegetiert und kaum noch etwas geschrieben, weil er angeblich geistig umnachtet gewesen war und dass daher sein scheinbar sinnloses "Gekritzel" getrost entsorgt werden konnte.
Die Kirche hatte sich jedoch geirrt was Hölderlins Leistung und Ansehen betraf, denn es gab schon damals viele Hölderlin-Anhänger, wie sich spätestens am 30. Juni 1881 zeigte, als in Tübingen feierlich ein Denkmal zu Hölderlins Ehren enthüllt wurde. Im Jahre 1883 wurde in Hessen-Homburg dann ein weiteres Denkmal errichtet. 1884 brachte Karl von Köstlin auf Wunsch vieler eine Schmuckausgabe der Hölderlin-Werke heraus. Köstlin, der sich mit Goethe und Shakespeare auskannte, bezeichnete die meisten Werke Hölderlins als "Perlen ersten Ranges" (K. Köstlin, Dichtungen von Friedrich Hölderlin, 1884).

"Denn der hat viel gewonnen, der das Leben verstehen kann, ohne zu trauern.", wie Hölderlin selbst einmal sagte.


3. Hölderlin hatte kein Kind.
Er war ein Opfer übler Nachrede durch den Meininger Kaufmann Ernst Schwendler, ein langjähriger Bekannter der Freifrau Charlotte von Kalb. Aus mir bis jetzt unbekannten Gründen dichtete Schwendler Hölderlin eine Liebesbeziehung vom Hörensagen zur Gesellschafterin Wilhelmine Marianne Kirms aus Dresden an, die in der Zeit Hölderlins als Hauslehrer im Schloss Waltershausen im Herbst 1794 schwanger wurde.

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Im Sommer 1795, also in der besagten Zeit als Wilhelmine niederkam, wurde Freiherr Heinrich von Kalb laut offiziellem Taufbucheintrag am 12. Juni 1795 in Weimar Vater einer Tochter.

Das Foto zeigt die urkundliche Abschrift des Kirchenbuches der Familie von Kalb, die Emil Palleske in seinem Buch 'Charlotte' 1879 veröffentlichte. Die Tauf- und Sterbedaten decken sich mit den Abschriften der Kirchenbücher von Karina Kulbach-Fricke und Reinhold Albert.

Die uneheliche Tochter namens Louise Agnese der Wilhelmine Kirms ist eines von mindestens vier unehelichen Kindern des Freiherrn Heinrich von Kalb, Hölderlins erstem Arbeitgeber, des unliebsamen Gatten Charlottens und Besitzers des Schlosses Waltershausen bei Meiningen.
Da der Major von Kalb als Offizier des französischen Fremdenregiments Zweibrücken ('Régiment Royal Deux-Ponts') der Französischen Revolution seine Arbeitslosigkeit ab 1791 zu verdanken hatte und als selbstgefälliger Lebemann (Bonvivant) durch diverse Fehlinvestitionen, Spekulationen und Affären in der gehobenen Meininger Gesellschaft bereits im Gerede war, hatte Heinrich von Kalb dazu noch gute Gründe, seinen Ehebruch zu vertuschen, indem er ausgerechnet dem arglosen Hölderlin in dessen Abwesenheit die schändliche Vaterschaft in die Schuhe schob.
Hölderlin hatte aber nichts mit Wilhelmine, deshalb wusste er auch von nichts und wunderte sich nur, warum das Ehepaar von Kalb plötzlich unbedingt in die Stadt ziehen wollte. "Meine Herrschaft findet den Aufenthalt auf dem Lande jetzt plözlich zu langweilig.", schreibt Hölderlin seiner Mutter im Dezember 1794 aus Jena. (Gr. StAg, 6-1, S. 143)
Den Herrschaften von Kalb war es aber alles andere als langweilig, denn sie mussten dringend zusehen, wie sie ihr uneheliches (unzüchtiges) Problem lösen konnten, ohne dass ihnen die Kirche mit ihren strengen Sittengesetzen Schwierigkeiten bereitete und Klatsch und Tratsch in der Gesellschaft schlaflose Nächte - daher das Versteckspiel Charlottens von Kalb mit der schwangeren Wilhelmine in Weimar. Charlotte gab in Waltershausen im Dezember 1794 vor, dringend wegen der Erziehungsprobleme Hölderlins mit ihrem Sohn Fritz in Jena abreisen zu müssen. Auf ihrem Weg nach Weimar schrieb Charlotte von Kalb aus Erfurt an Schiller, dass sie ihm einen Eilboten schicken werde, weil sie sich krank melde und nicht weiterreisen könne (Adolf Beck, Die Gesellschafterin Charlottens von Kalb, Hölderlin-Jahrbuch der Hölderlin-Gesellschaft 1957, S. 57). Sie wollte damit sagen, sie tue mal so, als ob sie gute Gründe habe, das Haus nicht verlassen zu können. Sie bat Schiller eindringlich mit Hölderlin und ihrem Sohn Fritz im Dezember 1794 aus Jena zu ihr nach Erfurt zu kommen, was Schiller jedoch nicht tat. Charlotte musste daher Ende Dezember noch schnell selbst nach Jena kommen, um ihren Sohn Fritz und Hölderlin nach Weimar zu holen. Hölderlin, der aufgrund des im April 1795 anstehenden Drucktermins beim Verleger Cotta in Tübingen mit dem Schreiben und Überarbeiten seiner Werke sehr beschäftigt war, wollte natürlich in Jena bei seinem Gönner Schiller bleiben und sich nicht mehr mit seinem ungehorsamen Zögling Fritz von Kalb herumärgern, weshalb Hölderlin seine Hofmeisterstelle bei den Kalbs zum Jahresende 1794 kündigte.

Ehebruch und Unzucht wurden damals zu Hölderlins Zeiten sowohl in Waltershausen und Meiningen als auch in Weimar und Jena mit Gefängnis, Peitschenhieben am öffentlichen Pranger sowie Geld- und Kirchenbuße bestraft (zit. nach Kreisheimatpfleger Reinhold Albert, 2007, und Helmut Wurm, 2010).
Freiherr Heinrich von Kalb ließ seine uneheliche Tochter mit Wilhelmine Kirms mit Hilfe seiner Ehefrau Charlotte als offizielle Kindsmutter und von Gottfried Herder als guter Freund Charlottens, unkonventioneller Pfarrer und Taufzeuge am 12. Juni 1795 in Weimar ehelich unter dem Namen Eleonore von Kalb taufen, um seiner Kirchenstrafe zu entgehen. Die Schriftstellerin Ursula Naumann erwähnt in ihren Büchern über die Familie von Kalb Charlottens späteren Liebhaber Jean Paul, der aus dem Nähkästchen seinem Freund Christian Otto gegenüber intime Details ausplauderte, indem er in einem Brief mitteilte, dass der eheliche Beischlaf des Ehepaares von Kalb nach der schweren Geburt ihres vierten Kindes, des zweiten Sohnes August Wilhelm von Kalb, im Oktober 1793 eingestellt worden war (Ursula Naumann, Charlotte von Kalb – Eine Lebensgeschichte, 1985, S. 213). Vielleicht konnte Charlotte keine Kinder mehr bekommen, deshalb war sie dann wohl von ihren ehelichen Pflichten entbunden und Freiherr von Kalb hatte sich mit ihrem Wissen seine Geliebten auch aus seiner Dienerschaft genommen. Die uneheliche Tochter der Wilhelmine Kirms war dann das Ergebnis sowie drei weitere Kinder, die Kalb mit seiner Schlossköchin ab Mai 1799 zeugte.
Die ganze Zeit über konnte Hölderlin jedenfalls frei und ungehindert seiner Wege gehen, ohne von den Sittenwächtern wegen angeblicher Unzucht ins Verhör genommen und ggfs. bestraft zu werden. Freiherr Heinrich von Kalb hatte sich hingegen seiner öffentlichen Beschämung und evtl. Kirchenstrafe letztlich wegen seiner weiteren unehelichen Kinder nicht mehr entziehen können, denn seine ungeliebte Ehefrau Charlotte verließ ihn inoffiziell schon nach der Geburt von Wilhelminens Tochter und begann 1796 in Weimar mit Jean Paul eine Affäre, Ende 1799 dann aber offiziell, sodass Freiherr von Kalb im Februar 1800 die alleinige Verantwortung für seinen ersten unehelichen Sohn mit seiner Schlossköchin Anna Barbara Todt übernehmen musste. Die entsprechenden Taufbücher der drei unehelichen Kinder mit der Köchin fand Kreisheimatpfleger Reinhold Albert 2007 im Familienbuch aus Waltershausen im Grabfeld. Eine Transkription des Buches hatte ihm die Ahnenforscherin und Historikerin Karina Kulbach-Fricke freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Charlotte von Kalb schreibt in ihren Erinnerungen, dass sie sich nur einmal ihrem Ehemann nahe fühlte, nämlich im Moment der größten Schmach. Sie saß bei ihrem Mann und sie weinten beide. ('Charlotte', Emil Palleske, 1879)
Freiherr von Kalb, der stolze und oft trübsinnige Major, der laut Ursula Naumann zwar mit Auszeichnung im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg unter General Lafayette erfolgreich aus der Schlacht von Yorktown hervorgegangen war, ertrug nicht länger sein wohl freudloses Leben, seine öffentliche Schande wegen seiner unehelichen Kinder und seines Versagens in geschäftlichen Dingen, wurde er schon von seinem Vater nie respektiert. Heinrich und Charlotte von Kalb drohte letztlich sogar die Verarmung. Im Alter von 52 Jahren erschoss sich Freiherr Heinrich von Kalb an Ostern am 06. April 1806 (lt. Reinhold Alberts Heimatblatt 2007) im Münchner Gasthof 'Zum Goldenen Hahn' aufgrund "zerrütteter Vermögensumstände" (zit. nach Emil Palleske, 1879).

Der Kreisheimat- und Archivpfleger Reinhold Albert schreibt 2007 in seinen Heimatblättern über das Brauchtum in Waltershausen im Grabfeld, dass Freiherr Heinrich von Kalb einen sehr zerrütteten Haushalt hinterlassen habe, was zeige, dass "Unrecht Gut nicht gedeiht". Dieses Bibelzitat ist bei Hiob, 20, Zweite Rede des Zophar, in Gänze nachzulesen.
Da Freiherr von Kalb seine Unzucht mit Wilhelmine Kirms in seiner Verwerflichkeit seinem unschuldigen Domestiken Friedrich Hölderlin hinter vorgehaltener Hand anlastete, fällt mir dazu noch das 8. Gebot ein: "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten."

Mehr Informationen über das Geschehen im Schloss Waltershausen und Wilhelminens Niederkunft unter:
28. Dezember 1793 - Schloss Waltershausen; September 1794 - September 1796 in Waltershausen/Meiningen und Weimar/Jena

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Weder die Gesellschaft noch die Ärzte aus der 1805 gegründeten psychiatrischen Klinik in Tübingen, die den Grundstein des heutigen Universitätsklinikums legten, und schon gar nicht die protestantische Kirche konnten Hölderlin für ihre Zwecke gefügig machen und von seinem rechten, von Gott befohlenen, Weg abbringen.
Hölderlin wusste genau, was er wollte und was für sein Seelenheil richtig war. Zwar war er schon recht ehrgeizig, beinahe perfektionistisch, weshalb er sich seinem Bruder Karl gegenüber einmal als einen "Schiffbrüchigen" (Gr. StAg, 6-1, S. 262f) bezeichnete, weil er im Nachhinein glaubte, manche seiner Texte vielleicht zu früh für den Druck freigegeben zu haben, bevor die Zeit reif war. Er feilte jedenfalls immer wieder an seinen Texten und suchte stets die beste Wortwahl.
Darüberhinaus war Hölderlin sehr pflichtbewusst und wollte immer einen guten Job machen. Doch Erfolg und Anerkennung strebte er nicht um jeden Preis an. Er wollte für seine Leistung respektiert werden. Für einen zweifelhaften Ruhm auf Erden hätte er seine Seele nie dem Teufel verkauft. Ihm war es wichtig, immer noch in den Spiegel schauen zu können.
Er selbst hatte weder einen anderen Menschen sehenden Auges in sein Unglück rennen lassen noch hatte er sich auf Kosten anderer Vorteile verschaffen wollen. Nur weil er nie seine Ellenbogen eingesetzt hatte, bedeutet es nicht, dass er schwach und kränklich oder dümmlich, naiv, inkonsequent und lebensuntüchtig war, wie böse Zungen behaupteten und ihn dadurch oft genug kränkten - ganz im Gegenteil.

Schon aufgrund seiner pietistischen Erziehung war Hölderlin bescheiden und fromm. Hölderlin (wie manche unserer religiösen Verwandten) kannte die natürliche Verbindung zwischen Himmel und Erde und die daraus entstandenen Gesetze und Ordnung des Universums.
Er durfte eine höhere Schulbildung genießen, gehörte sozusagen zur Bildungselite im Land. Man kann ihn als klug und gebildet, kultiviert und gesittet, ja sogar als weise bezeichnen.
Als Heranwachsender im Kloster Maulbronn ließ er in seinen Schriften eine schon erstaunliche geistige Reife erkennen. Manchmal schien Hölderlin ein untrügliches Gespür für die Wahrheit zu haben, das bei ihm so etwas wie einen sechsten Sinn vermuten ließ. Manche Leute schreiben ihm sogar seherische Fähigkeiten zu, denn er sprach über Dinge, die sich ihm erschlossen, als ob er hinter die Fassade der Menschheit mit all ihren Lügen und Intrigen, ihrer Falschheit, Missgunst und Zwietracht blicken könne. Hölderlin hatte seine Mitmenschen dadurch immer wieder verunsichert, sodass ihm manche ein großes Misstrauen entgegenbrachten, wenn nicht sogar Angst vor ihm hatten.

Hölderlin wiederum fühlte sich oft genug unverstanden, gekränkt und beleidigt, sodass sich mehr und mehr Wut in ihm aufstaute. Mit seiner Schimpfrede 'So kam ich unter die Deutschen' in seinem Briefroman 'Hyperion' hielt Hölderlin seinen hoffärtigen, missgünstigen und streitsüchtigen Mitmenschen einen Spiegel vor und machte sich damit natürlich keine Freunde. Er wollte den bösen Menschen aber auch gar nicht nach dem Mund reden und womöglich noch Gott schmähen, nur um ihnen zu gefallen und den Absatz seiner Werke anzukurbeln. Der Mensch wurde schließlich nicht auf die Erde gesetzt, um in seiner Eitelkeit zu glänzen, sondern um Gott zu dienen und zu lernen, seine Mitmenschen im Glauben zu unterstützen, wie Hölderlin sinngemäß seinem Bruder Karl sagte.
Die "Barbaren", wie Hölderlin die Deutschen auch nannte, ließen eben "nichts Reines unverdorben", weil sie ihm wie "gottverlassene Unnaturen" vorkamen, die die göttliche Kraft und Schöpfung verleugneten, sich selbst für unantastbar hielten und sich deshalb "zum Gesetz für die Besseren unter ihnen" machten. Was immer Hölderlin in seinen Werken schrieb, meinte er ernst. Er war weder ironisch, süffisant, schlüpfrig oder komisch noch hatte er unehrenhafte und heuchlerische Hintergedanken, wie ihm manche Kritiker unterstellen.

Als Hölderlin endlich sein unliebsames Theologiestudium beendet und auf Empfehlung Schillers seine erste Hauslehrerstelle bei der Familie von Kalb im fränkischen Schloss Waltershausen bei Meiningen angetreten hatte und ihm von Schiller dazu noch das verlockende Angebot zur Mitarbeit an dessen Monatsheft unterbreitet wurde, fühlte er sich zum ersten Mal frei von Kirchenzwängen, heiter und gelöst, auf dem vermeintlich unaufhaltsamen Weg, seine kreative Dichtkunst ausleben zu dürfen.
Seine Freude und Erleichterung zeigt sich in seinem ersten Brief aus Waltershausen an die Schwester Heinrike, deren Ehemann Pfarrer Breunlin und seine Mutter. In einem fröhlichen Brief erzählt Hölderlin von seiner Ankunft und freundlichen Aufnahme durch den Schlossherrn, dem 'HE Major von Kalb' (Freiherrn Heinrich von Kalb), den Dorfpfarrer Nenninger und die Bediensteten im Schloss Waltershausen und lässt sich entgegen seiner Gewohnheit mal zu einer recht flapsigen und unbedachten Bemerkung hinreißen, als er der Gesellschafterin des Hauses, Wilhelmine Kirms, eine "interessante Figur" zuschreibt - eine Bemerkung, die er aber sogleich als Posse verstanden wissen wollte. Er wollte die Gemüter nicht beunruhigen, sondern zur Abwechslung mal erheitern, und er schloss diesen Brief an die Familie mit "das nächste Mal was Gescheiteres".

NB: Hölderlins unbedachte und eher scherzhaft gemeinten Worte über Wilhelminens Figur wurden ihm posthum so sehr im Munde herumgedreht, dass im 21. Jahrhundert allgemein die Medien sowie Rezitatoren in ihren Vorträgen und Darbietungen und Autoren in ihren Büchern schon nicht mehr von einem Gerücht, sondern von einer Tatsache sprechen, dass Hölderlin eine uneheliche Tochter habe. Wenn sich Hölderlin in seinem Brief jedoch anders ausgedrückt hätte, dann wären wohl wiederum andere seiner Worte als "Beweis" seiner angeblichen Vaterschaft aufgeführt worden. Worte hier und da allein beweisen aber keine Vaterschaft bzw. Verwandtschaft, nur Kirchenbücher und offizielle Register als Quellennachweis.
Wir haben bislang (Stand Dezember 2022) nirgendwo ein Kirchenbuch gefunden, das Hölderlin als Vater führt, auch nicht der Heimatpfleger Reinhold Albert zusammen mit der Historikerin Karina Kulbach-Fricke (2007), der Hölderlinforscher Adolf Beck (1957) oder der Historiker und Schriftsteller Emil Palleske (1879), der in seinem Buch über Charlotte von Kalb die urkundlichen Abschriften sämtlicher Kirchenbucheinträge der Verwandtschaft Charlottens von Kalb, Marschalk von Ostheim, aus dem Grabfeld veröffentlichte.
Wenn also bis heute kein Kirchenbucheintrag eines unehelichen Kindes Hölderlins mit Wilhelmine Kirms zu finden ist, dann schreiben wir im Rahmen unserer seriösen Ahnenforschung bloß aufgrund haltloser Gerüchte im Stammbaum unserem Vorfahren Friedrich Hölderlin natürlich auch keine uneheliche Tochter zu und müssen bis jetzt nur Freiherr Heinrich von Kalb (HE Major von Kalb) als Vater von Wilhelminens Tochter annehmen, weil nur allein der Freiherr von Kalb im Umkreis Hölderlins im besagten Sommer 1795 laut Kirchenregister Vater einer Tochter wurde.
Kritiker von heute vergessen gerne, dass im 18. Jahrhundert Kirchenbucheinträge zu Geburt, Taufe, Konfirmation/Firmung, Hochzeit, Tod und Bestattung das A und O waren, um das damalige Geschehen heute einigermaßen nachvollziehen zu können, wobei das Geburtsdatum weniger oft als eher das Taufdatum wichtig war und notiert wurde. Das berühmte Beispiel ist Hölderlins Zeitgenosse Ludwig van Beethoven. Man weiß bis heute nur, dass Beethoven am 17. Dezember 1770 getauft wurde. Da Kinder meist 1-3 Tage nach der Geburt getauft wurden, manchmal auch gleich unmittelbar nach einer komplizierten Geburt, so kann man Beethovens eigentlichen Geburtstag wohl ab dem 14. Dezember 1770 vermuten.
Kirchenbücher wurden getrennt geführt nach den Geburten/Taufen ehelicher und unehelicher Kinder. Bei den Taufen unehelicher Kinder sind auch die Kirchenstrafen (Gefängnis, Peitsche, Geldstrafe etc.) vermerkt. Die Kirche hatte seit jeher überall ihren Daumen drauf.
Standesämter wurden in Deutschland erst ab 1870 eingeführt sowie das "Kranzgeld"-Gesetz von 1900 bis 1998, das einer alleinstehenden Frau das Recht auf finanzielle Entschädigung gab, wenn sie von ihrem Verlobten "entehrt" und vor der Hochzeit (schwanger oder nicht) sitzen gelassen wurde.
Der Hölderlinforscher Pierre Bertaux suggerierte in seinen Büchern, dass der Vorschuss ("Geld auf ein Vierteljahr"), den Charlotte von Kalb Hölderlin für die weitere Betreuung ihres Sohnes Fritz von Kalb von Januar bis Ostern 1795 in Jena aufgedrängt hatte, in Wahrheit eine Art Kranzgeld oder Alimente an Wilhelmine und "seine" Tochter gewesen wäre. Fakt ist, dass Charlotte von Kalb Hölderlin nicht so schnell gehen lassen und ihn finanziell an sich binden wollte. Sie legte ihm dringend nahe, mehrmals im Monat nach Weimar zu kommen, um ihn in einflussreiche Kreise einzuführen. Sie machte ihm Hoffnungen auf eine große Dichterkarriere, was sie auch schon bei Schiller tat, jedoch mit dem Unterschied, dass sie Schiller weiterhin als Liebhaber behalten oder vielleicht sogar als Ehemann gewinnen wollte. Hölderlin hingegen "missbrauchte" sie als Sündenbock, indem sie ihrem Umfeld hinter vorgehaltener Hand weismachen wollte, Hölderlin käme nur so oft aus Jena nach Weimar, um bei "seiner" Wilhelmine und "seinem" unehelichen Nachwuchs zu sein. Dass Charlotte von Kalb oft gelogen und manipuliert hatte, stellte schon Ursula Naumann bei ihren Recherchen fest: "Und auch, wenn es Charlotte gelang, vieles zu verheimlichen, nur manchmal nicht die Spuren dieser Heimlichtuerei." (Ursula Naumann, Charlotte von Kalb – Eine Lebensgeschichte, 1985, S. 133). Ob Hölderlin ahnte, welch böse Hintergedanken Charlotte und ihr Mann Heinrich tatsächlich hatten, kann ich nicht sagen. Jedenfalls zahlte Hölderlin Charlotte von Kalb ihre 7-8 Karolin an Vorschuss, die ihm seine Mutter Johanna Gok im Frühjahr 1795 geschickt hatte, ordnungsgemäß zurück, um sich so schnell wie möglich wieder frei und unabhängig zu machen. Pierre Bertaux argumentierte hierzu so, als habe Hölderlin im 20. Jahrhundert gelebt, und dadurch sind seit mehr als 70 Jahren gravierende Fehlinterpretationen entstanden.

Hölderlin hatte sich aber in dieser Hinsicht absolut nichts vorzuwerfen.

Die Stille, die Natur und die Musik hatten es Hölderlin angetan. Er sah die Schönheit im Detail. Während der Schulzeit erlernte er das Spielen der Blockflöte und des Klaviers. Er sprach mehrere Sprachen - Latein, Griechisch und Hebräisch gehörten sowieso zu seinem Theologiestudium. Französisch erlernte er im Evangelischen Stift zu Tübingen als weitere Sprache noch dazu und beherrschte sie bis ins hohe Alter. 
Seine Gesundheit war robust. Er konnte reiten und fechten, war ein kräftiger, sportlicher Typ. Wenn man ihn zum Freund hatte, konnte sich mancher glücklich schätzen. Seinen jüngeren und schmächtigen Schulfreund Schelling ("der kleine Schelling") hatte Hölderlin oftmals mit Fäusten auf dem Schulhof gegen stärkere böse Jungs verteidigt. "Ewig Dein Fritz!" schloss er manchmal seine Briefe an liebe Vertraute.

Bei Frauen und Männern galt Hölderlin als gutaussehend, was Eifersüchteleien zwischen der Freifrau Charlotte von Kalb und der Bankiersgattin Susette Gontard in der Zeit nach sich zog, als Hölderlin als Hauslehrer in Frankfurt arbeitete und später, nachdem Hölderlin seinen Job als Hauslehrer wegen Susette verloren hatte und er sich hauptsächlich in Homburg in Susettens Nähe aufhielt.

Der aus Meiningen stammende Kaufmann Ernst Schwendler, der in Frankfurt ein gemachter Mann war, bezeichnete Hölderlin als einen schönen Mann, verleumdete ihn jedoch aus unbekannten Gründen. Ernst Schwendler war der Sohn des Amtmanns Schwendler der Familie Marschalk von Ostheim, also der Verwandtschaft Charlottens väterlicherseits.
Mag sein, dass Schwendler Hölderlin die uneheliche Tochter der Bediensteten Wilhelmine Kirms aus Dresden und des Freiherrn von Kalb (des "Majors von Kalb") anhängen wollte, um der geschätzten Freifrau Charlotte von Kalb sowie ihrer angesehenen Familie Marschalk von Ostheim daheim Klatsch und Tratsch zu ersparen. Charlottens Vormund hatte sich von den Gebrüdern von Kalb bei der Verheiratung Charlottens wohl über den Tisch ziehen und blenden lassen. Die Brüder von Kalb hatten kein so glückliches Händchen in Geldangelegenheiten, wie sie es allen glauben machen wollten.
Die sensible und gläubige Charlotte von Kalb hatte jedenfalls sehr unter ihrem ungeliebten und treu- und gefühllosen Ehemann zu leiden, der kein Kind von Traurigkeit war, sondern als ein Lebemann galt und letztlich sogar ihr stattliches Vermögen durchbrachte. Charlotte von Kalb hatte nach der Niederkunft Wilhelminens und der offiziellen Taufe in Weimar im Juni 1795 ihrem Mann nicht mehr geholfen, seine weiteren Ehebrüche in den kommenden Jahren zu verschleiern, sondern suchte ebenfalls (leider vergeblich) nach einem neuen ehelichen Liebesglück mit dem Dichter Jean Paul Richter. Die Trennung von ihrer großen Liebe Friedrich Schiller in Mannheim hatte sie nie überwunden. Sie schreibt in ihren Erinnerungen, dass sie Schillers Liebesbriefe nur langsam, nach und nach, verbrennen konnte. Jedes Mal, wenn sie einen seiner Briefe ins Kaminfeuer warf und sie das Papier brennen sah, verbrannte sie auch mit großen Schmerzen und vielen Tränen. Als vom Papier nur noch ein kleines Häufchen Asche übrig blieb, fühlte sie sich genauso in ihrem Leben. Sie fühlte sich seit jeher als nichts weiter als ein kleines Häufchen Asche. ('Charlotte', Emil Palleske, 1879)
Heinrich von Kalbs spielsüchtiger und ebenso großspuriger Bruder Johann von Kalb, der Kammerpräsident Sachsen-Weimar, der mit Charlottens jüngerer Schwester Eleonore ('Lorchen') verheiratet war, tat dazu noch sein Übriges, Charlotte von Kalb in den Ruin zu treiben.
Für Freiherr Heinrich von Kalb waren also die uneheliche Tochter der Gesellschafterin Wilhelmine Kirms und die drei unehelichen Kinder der Schlossköchin Anna Barbara Todt sowie die Tatsache, dass er berufliche Abstriche machen musste und in Gelddingen total versagte, letztlich eine persönliche und so quälende Schmach, die er mit der Zeit doch nicht mehr unter den Teppich kehren konnte, sodass er sich letzten Endes im April 1806 erschoss.

Hölderlin war quasi in seiner Zeit als Hofmeister im Schloss Waltershausen einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Er wusste nichts von Wilhelminens Schwangerschaft und wohl auch nicht von den Gerüchten, die über ihn später kursierten, als er längst in Frankfurt arbeitete. Einen unbedarften "Domestiken" wie Hölderlin konnte man in dessen Abwesenheit gut als Sündenbock benutzen.
Wie Charlotte von Kalb in ihren Lebenserinnerungen schreibt, hatte es in ihrem Umfeld immer Menschen gegeben, die durch Schmähbriefe gegen sie persönlich und auch gegen andere intrigierten.
Auch Schiller antwortete seinem Freund Gottfried Körner mit Bestimmtheit, dass Körner die Gerüchte, die in Weimar über Schillers Verhältnis zu Charlotte kursierten, doch überhören solle. Nur was Körner aus Schillers Mund persönlich höre, dürfe Körner getrost glauben. Alles andere sei Geschwätz.

Charlotte selbst war schon etwas gekränkt, als sie von der Liebesbeziehung Hölderlins zur Frau seines zweiten Arbeitgebers, Susette Gontard, erfuhr, da sich Hölderlin von Charlotte zuvor in Waltershausen und Weimar nicht hatte einwickeln lassen. Hölderlins Muse und Liebe war nunmal die ein Jahr ältere Susette und nicht die über acht Jahre ältere Charlotte von Kalb.
Die "Majorin", wie Charlotte von Kalb auch genannt wurde, war am Ende ihrer Ehe mit allen Nebenfrauen und unehelichen Kindern und ihrer unverschuldeten Armut zwar verbittert, versuchte aber dennoch das Beste daraus zu machen, indem sie allen Menschen, die sie verletzt hatten, Großmut und Respekt entgegenbrachte. Es sei ihr verziehen, dass sie im Zorn schimpfte, Hölderlin solle nie wieder Hauslehrer werden.

Was "Hölderlin und die Frauen" angeht, so ist das Thema im Leben Hölderlins sehr überschaubar. Mit seinen moralischen Prinzipien und seiner pietistischen Erziehung war Hölderlin alles andere als ein Weiberheld: die gelöste Verlobung mit seiner Jugendliebe Luise Nast, die Trennung von seiner langjährigen Freundin Elise LeBret, die er nach seinem Theologiestudium auf Druck der Mutter bzw. der Kirche hätte heiraten sollen, obwohl er immer sagte, er wolle nie heiraten, und die große Liebe seines Lebens, die Bankiersgattin Susette Gontard, der er in seinem bedeutungsvollsten Werk, quasi seinem Lebenswerk, dem 'Hyperion', ein Denkmal setzte.

Hölderlin war gewissenhaft und mitfühlend, gütig und warmherzig - einfach ein lieber Mensch.
In einem Brief schrieb er, er wolle sein Herz nicht an eine einzelne Person hängen, sondern an die gesamte Menschheit, und dass er hoffe, die Nachwelt möge sich in Freiheit gemäß ihres Naturells besser entfalten. Ihm gefielen die Grundzüge einer Demokratie wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und er prangerte immer wieder den zerstörerischen Egoismus und Frevel des Einzelnen in der Gesellschaft an. Solange der Geist des Neides unter den Menschen vorherrsche, gäbe es Krieg, wie er schrieb. Als Jakobiner wollte er aber nicht gesehen werden, gerade weil er um die Gefahr wusste, dass radikale und deshalb politisch zu unbequeme Schriftsteller letztlich nicht nur in Frankreich um ihren Kopf fürchten mussten.

Nie hat er sich blenden und verbiegen lassen. Er war mutig genug, trotz aller Widerstände und Gefahren, seiner Berufung zu folgen, nämlich den Menschen das Göttliche auf seine ganz eigene Weise näherzubringen. In seinen Werken beschreibt er immer wieder große Momente im Leben - Momente, die sich "groß" anfühlen, weil sie "göttlich" sind, d.h. weil Gott anwesend ist - ganz gleich, ob Momente im Leben heiter und schön oder traurig und schmerzlich sind. Wen Gott liebt, dem schenkt er solche Momente.
Da Hölderlin ein großer Griechenlandfan war, obwohl er nie die Gelegenheit hatte, selbst dorthin zu reisen, schrieb er gerne über die Götter aus der griechischen Mythologie.

Das Göttliche auf Erden erlebte Hölderlin tatsächlich in seiner großen Liebe zur Bankiersgattin Susette Gontard, Mutter von vier Kindern, die ihn als Einzige verstand und seine Liebe gleichermaßen erwiderte. "Sie ist ein Engel!" und "Ich bin in einer neuen Welt.". So beschrieb Hölderlin seinem lieben und vertrauten Studienfreund Christian Ludwig Neuffer die Sommermonate in Bad Driburg, wo Hölderlin mit der erfahrenen Susette erstmals auch die körperliche Liebe kennenlernte. Hölderlin schrieb in einem Briefentwurf an Susette: "Weißt du noch, als wir ganz beieinander waren?".
Ansonsten sagte Hölderlin, dass er die Liebe bisher nur aus seinen Träumen kannte. Er entschuldigte sich noch bei Neuffer, weil er dessen Post so lange nicht beantwortet hatte, beglich Hölderlin doch an sich immer schnell und gewissenhaft seine Briefschulden, auch weil er immer selbst gerne liebe Post erhalten wollte.
Bei Susette, so sagte Hölderlin, sei er jetzt mit beiden Füßen auf der Erde und nicht wie gewohnt am Arbeiten. Susette war also die erste und einzige Frau in seinem Leben, die den liebestrunkenen Hölderlin seine Dichtung in dieser Zeit beinahe vergessen ließ. Hölderlin verewigte sie in seinem Briefroman 'Hyperion' in der Figur der 'Diotima', die unerwartet stirbt, als 'Hyperion' seiner Mission folgend in die Welt hinauszieht.
Die Geschichte des 'Hyperion', an der Hölderlin zusammen mit Susette arbeitete, sollte sich auf tragische Weise im echten Leben bewahrheiten.

Nachdem der Kontakt zu Schiller in Jena vollends abgebrochen und seine Liebesbeziehung zu Susette aufgeflogen war, hatte sich Hölderlin 1801 entschlossen, zunächst eine Hauslehrerstelle in Hauptwil in der Schweiz anzutreten, wo er sich eigentlich sehr wohl fühlte und unglaublich produktiv war. Da jedoch Hauslehrerstellen damals immer befristet waren, weil die Kinder der Herrschaften ab einem gewissen Alter keinen Hauslehrer mehr brauchten, kam Hölderlin die Kündigung durch seinen Arbeitgeber Anton von Gonzenbach wohl auch ganz gelegen, denn Hauptwil an sich war zudem schon ziemlich abgelegen. Gonzenbach selbst lobte Hölderlin und bedauerte, dass sich ihre Wege so schnell wieder trennten. 
Zurück in Deutschland liefen Hölderlins Versuche, als Dichter vielleicht doch noch einen Fuß in die Tür zu bekommen, mehr oder weniger ins Leere. Daraufhin fasste er den Plan, nach Bordeaux zu gehen, weil er in seinem geliebten Vaterland als Dichter nicht gebraucht wurde, wie er sagte. In Deutschland herrsche eben kein Dichterklima und kaum jemand könne allein nur vom Schreiben leben. Der Abschied, der vielleicht für immer sein würde, fiel ihm unsäglich schwer. Er weinte bittere Tränen, wie er schrieb, und als Trost führte er die Briefe Susettens im Geheimfach seines Koffers mit sich.

Kaum hatte sich Hölderlin in Bordeaux einigermaßen eingelebt, kündigte er am 22. Mai 1802 ohne ersichtlichen Grund nach nur drei Monaten seine Hauslehrerstelle bei Konsul Daniel Christoph Meyer, der Hölderlin ein vorzügliches Zeugnis ausstellte. Hölderlin wurde in Bordeaux von Augenzeugen oftmals als sehr betrübt und traurig beschrieben. Er war oft in Gedanken versunken und schaute immer wieder sehnsüchtig in die Ferne (zit. nach der Stammbaumwebseite von Ulrich Lorenz-Meyer, 2016).
Hölderlin ging über Paris zurück nach Deutschland, vermutlich zuerst gleich nach Frankfurt, um seine geliebte und schmerzlich vermisste Susette wiederzusehen. Seinen Koffer schickte er zur Mutter, die sich darüber wunderte. Beim Durchsuchen des Koffers nach Hinweisen fand die Mutter die Liebesbriefe Susettens, die sie Hölderlin vorwarf als dieser völlig abgerissen und deprimiert nach Hause kam, worauf Hölderlin einen fürchterlichen Wutausbruch bekam. Die Mutter konnte ja nicht ahnen, dass Hölderlin unter Schock stand, weil er Susette verloren hatte und sich wahrscheinlich nicht mehr von ihr auf ihrem Totenbett verabschieden konnte (was ich persönlich auch als besonders tragisch empfinde).

Susette, die zu Hause in Frankfurt bei ihrem Mann geblieben war und ihre an Röteln erkrankten Kinder pflegte, steckte sich bei ihren Kindern an. Da sie bereits zuvor wochenlang mit einem hartnäckigen Husten kämpfte, allgemein kränkelte seit Hölderlin das Gontardsche Haus als Hauslehrer verlassen musste und sie sich tagtäglich nach ihm sehnte, verstarb sie zehn Tage nach Ausbruch der Erkrankung am 22. Juni 1802.
Für Hölderlin brach die Welt zusammen, als ihm sein Freund Isaac von Sinclair aus Homburg die Nachricht vom Tode Susettens überbrachte. Sinclair wollte Hölderlin in dessen Trauer beistehen, verschaffte ihm eine Stelle als Hofbibliothekar in Homburg und ließ ihn bei sich wohnen. Hölderlin schrieb noch Gedichte, brachte jedoch in seiner Wortwahl die Einsamkeit, Kälte und Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck, die ihn von da an umgaben. Als wäre mit Susette auch ein Teil von ihm gestorben. Wie seine Romanfigur 'Hyperion' zog auch er sich innerlich für den Rest seines Lebens von der Außenwelt zurück.

Den lebenslangen Kampf mit der weltlichen Kirche hatte Hölderlin gewonnen, denn er konnte sich ihr erfolgreich entziehen. Er war nicht wie von der Mutter geplant Pfarrer geworden und hatte sich in diesem Zusammenhang auch nicht verheiraten lassen.
Seiner Mutter sagte er schon als Schüler im Kloster Maulbronn, dass er sich kein Leben als "friedliebender Ehemann und Familienvater" in einer Pfarrei vorstellen könne. Mit seinem ausgeprägten Ruhebedürfnis hatte der empfindsame Hölderlin jedoch schon immer etwas Mönchartiges an sich.

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Der Hölderlinturm befindet sich direkt am Neckarufer (Foto mit der Abendsonne, die hinter Schloss Hohentübingen untergeht).
Hölderlin hatte einen wunderschönen Blick ins Grüne, was sein Dichterherz zeitlebens inspirierte.
Im Frühjahr und Herbst hängen morgens die Nebel über dem Wasser und verleihen der Flusslandschaft eine mystische Aura. Bis zum Mittag dringen die Sonnenstrahlen durch. Das Sonnenlicht spiegelt sich auf den Neckarwellen und wird an die Decke von Hölderlins Zimmer geworfen. Im Hochsommer wurde Hölderlin schon früh von der Morgensonne geweckt. Oftmals stand er aber sogar schon vor Sonnenaufgang auf.

Die Mutter schien ihn nie wirklich verstanden zu haben, glaubte sie wohl, dass Hölderlin in einem geregelten Leben mit einem Weib am Herd besser aufgehoben sei. Allerdings darf man nicht vergessen, dass sie ihren Sohn liebte und nur das Beste für ihn wollte. Wenn nur sie hätte entscheiden dürfen, dann hätte sie ihn wohl letzten Endes als Dichter in die Welt ziehen und sein Glück finden lassen. Doch eine Frau und Witwe hatte im 18. Jahrhundert im Grunde nichts zu melden. Hölderlins Mutter war ebenso der Kirche verpflichtet und wurde angehalten, ihren Sohn nach dem Theologiestudium in eine Pfarrei zu schicken, wo gerade eine offene Vikarstelle und eine Pfarrerstochter zum Heiraten war. Da angehende Pfarrer verheiratet sein mussten, hätte man ihn zwangsverheiratet, wenn er sich nicht vorher selbst ein Mädchen sucht. Die Mutter hätte also nichts dagegen gehabt, wenn Hölderlin eines Tages mit Frau und Kind angekommen wäre.
Sie musste genauso gute Miene machen wie er, sonst hätte die Kirche, die Hölderlins komplette Ausbildung bezahlt hatte, von ihr das gesamte Schulgeld wieder zurückverlangen können. Für die leidgeprüfte Mutter und zweifache Witwe, die noch andere Familienmitglieder versorgen musste, hätte dies eine große finanzielle Belastung bedeutet.

Nichtsdestotrotz war Hölderlin kein Mann zum Heiraten und Familiegründen, das wusste auch Susette und hat ihn wennauch schweren Herzens in die weite Welt bis nach Bordeaux ziehen lassen, damit er seiner Berufung folgen konnte. Sie wollte ihm beruflich nicht im Weg stehen.
Hölderlin brauchte stets seine Ruhe zum Denken, Philosophieren und Schreiben. Seine geistige Freiheit war ihm wichtig. Der Alltag und andere weltliche Belange waren für einen so großen Geist wie ihn ein Graus, lieber schwebte er geistig in höheren Sphären, komplett losgelöst von der irdischen Last. Ständig musste er sich mit den Leuten "herumarbeiten", mit solchen Worten beklagte sich Hölderlin immer wieder.
Zeitweise ließ sich Hölderlin also von der Kirche für Auslandsstudien beurlauben und nahm Gelegenheitsjobs als Hauslehrer bei wohlhabenden Familien an. Die Mutter, die sein Erbe gut angelegt hatte, zahlte ihn für eine brotlose Kunst zwar nicht einfach aus, schickte ihm jedoch das nötige Geld, wenn Hölderlin unterwegs war und ihr seine Ausgaben genau auflistete.
Der eigentliche Grund war, dass Hölderlin Zeit zu gewinnen versuchte, sich als Dichter einen Namen zu machen ohne dabei zu hungern. Stets war er auf der Flucht vor den Fängen der Kirche, auf der Suche, den richtigen Zeitpunkt abzupassen, um sich der Kirche elegant zu entziehen. Insgeheim hoffte er wie seine Zeitgenossen, die politischen Ereignisse und Umbrüche könnten auch eine Revolution in Deutschland hervorrufen und in Württemberg eine schwäbische Republik nach französischem Vorbild entstehen lassen. Vielleicht wären die Forderungen der Kirche an Hölderlin und seine Mutter dann hinfällig gewesen und er hätte in einer Demokratie von rechtlich unzulässigen Verpflichtungen entbunden werden können. Es wäre wohl zu schön gewesen.

Nach dem Tod Susettens erlitt Hölderlin also einen seelischen Zusammenbruch und versank in tiefe Depression. Sein Freund Sinclair, der als Jakobiner galt, wurde bei einem konspirativen Treffen von Spionen belauscht und denunziert und kam als Hochverräter in U-Haft. Hölderlin geriet bei seinem Aufenthalt in Homburg in schlechte Gesellschaft, sodass auch gegen ihn und die Familie ermittelt wurde. Er wurde politisch und gesellschaftlich zu unbequem.
Um Hölderlin das Gefängnis zu ersparen und ihn doch noch der Kirche zuführen zu können, wurde der Mutter dringend geraten, ja sogar befohlen, ihren Sohn in die neu gegründete Psychiatrie nach Tübingen bringen zu lassen, wogegen sich Hölderlin vergeblich mit Händen und Füßen wehrte. Er stand Todesängste aus, weil er nicht wusste, was mit ihm passieren würde. Dieser Abtransport glich einer Entführung und entbehrte jeglicher rechtlichen Grundlage. Die Mutter musste von da an die Vormundschaft für ihn übernehmen.
Schließlich schien sich Hölderlin seinem Schicksal zu ergeben und vegetierte in seiner Zelle vor sich hin. Man gab ihm nur noch zwei bis drei Jahre zu leben. Er blieb aber dabei, sich nicht der Kirche zu unterwerfen. Vermutlich hatte er bereits mit dem Leben abgeschlossen, hatte er doch verloren, was er liebte.
Wenn ich mir diese Situation vorstelle, was Hölderlin und auch seine Mutter durchgemacht haben müssen, dann blutet mir das Herz.

Als diese unmenschliche Therapie - die reinste Folter und eine absolut unsinnige Behandlung wie man heute weiß - nach Ermessen des damaligen Arztes Dr. Autenrieth nichts fruchtete und Hölderlin nicht einlenkte, wurde er zum Sterben entlassen.
Glück im Unglück war der Schreinermeister Ernst Zimmer, der Hölderlin und seine Dichtkunst sehr schätzte. Zimmer nahm Hölderlin in Pflege. Der König von Württemberg bewilligte auf Antrag der Mutter über das Konsistorium jährliche Zahlungen für Kost und Logis.
Von nun an lebte Hölderlin auf Staatskosten bei einer liebevollen Pflegefamilie, die für sein leibliches Wohl sorgte und ihm sogar ein Klavier zur Verfügung stellte, weil Hölderlin so gerne darauf spielte. Manchmal sang er dabei lauthals.
Dies brachte Hölderlin wiederum viel Neid bei seinen Mitmenschen ein. Manche bezeichneten ihn als krank oder verrückt, weltfremd oder verträumt, andere jedoch als bauernschlau, denn Hölderlin musste nicht wie das Fußvolk schuften und sich Gedanken machen, wie er das Brot über Nacht verdienen soll. Der Turm wurde für Hölderlin sozusagen zur Schutzzone.
Mit der Zeit hatte Hölderlin herausgefunden, wie er ungebetene Gäste im Turm durch ein befremdliches Verhalten seinerseits geschickt und schnell abwimmeln konnte. Seine Gedichte, die er in der Turmzeit schrieb, unterzeichnete er meistens mit anderen Namen, zum einen um vielleicht die lästigen Besucher zu ärgern, die von ihm ein paar Zeilen wollten, zum anderen dachte er wohl, diese einfachen Zeilen, die er manchmal aus dem Ärmel schüttelte, wären den Namen Hölderlin nicht wert.

Im Grunde war Hölderlin immer ein subtiler Kämpfer, wie viele seiner Zeitgenossen mit Tinte, Feder und Papier bewaffnet, und lange Zeit nichts weiter als ein verkannter Held. Für seine moralischen Prinzipien und so geliebte Ruhe und Zurückgezogenheit war Hölderlin bereit, den hohen Preis zu zahlen, zumindest offiziell als unheilbar Wahnsinniger in die Geschichte einzugehen...
und schließlich verhalf ihm gerade sein Leben als entmündigter Mann im Turm zu der großen Berühmtheit, die wir am 20. März 2020 anlässlich seines 250. Geburtstages im kleinen Kreise unserer Familie feierten.

Die folgenden Lebensstationen Hölderlins mit Datumsangabe stammen größtenteils aus Adolf Becks Buch 'Hölderlin - Chronik seines Lebens', 1975, sowie aus Hölderlins persönlichen Briefen. Die Beschreibung des Lebens der Gesellschafterin Wilhelmine Kirms sowie das Verhalten des Meininger Kaufmanns Ernst Schwendler sind in Adolf Becks Abhandlung 'Die Gesellschafterin Charlottens von Kalb' im zehnten Band des Hölderlin-Jahrbuchs der Hölderlin-Gesellschaft aus dem Jahre 1957, zu finden. Ursula Naumanns Bücher über Charlotte von Kalb und ihren Mann, den Major von Kalb, Emil Palleskes Veröffentlichung der Gedenkblätter Charlottens sowie Reinhold Alberts Heimatblätter über Waltershausen im Grabfeld liefern die meisten Informationen über die Familie von Kalb.
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20. März 1770 Johann Christian Friedrich Hölderlin kommt in Lauffen am Neckar als erstgeborenes Kind des Klosterhofmeisters Heinrich Friedrich Hölderlin und der Pastorentochter Johanna Christiana Heyn zur Welt.

05. Juli 1772 Hölderlin wird mit dem plötzlichen Tod seines Vaters konfrontiert, der einen Schlaganfall erleidet. Die Mutter verwaltet seitdem Hölderlins Erbe und erzieht ihn im pietistischen Sinne. Noch vor seiner Einschulung verpflichtet ihn seine Mutter der Kirche. Hölderlin soll wie sein Großvater Andreas Heyn Pfarrer werden, was er jedoch zeit seines Lebens ablehnt. Vielmehr fühlt er sich zum Dichter berufen.

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Das Foto links zeigt das Hölderlindenkmal in der öffentlichen Gartenanlage des ehemaligen Klostergeländes in Lauffen am Neckar, wo Besucher gerne Blumen ablegen.

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Das Foto links zeigt das Geburtshaus Hölderlins, das aufwändig saniert wurde und am 20. März 2020 eingeweiht werden sollte. Leider musste durch die angespannte Gesundheitssituation im Lande u.a. diese geplante Veranstaltung abgesagt werden. Die Bauarbeiten waren im August 2020 noch nicht ganz abgeschlossen.

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22. September 1774Wiedervermählung der Mutter Johanna mit Johann Christoph Gok in Nürtingen, der für Hölderlin ein lieber Ersatzvater wird. Gok betreibt in Nürtingen Weinhandel und auch wie meine Vorfahren Landwirtschaft.
Christoph Gok ist Kammerrat und wird zu einem späteren Zeitpunkt auch dritter Bürgermeister der Stadt Nürtingen.
Hölderlins Halbbruder Karl (1776-1849), das erstgeborene Kind in zweiter Ehe mit Christoph Gok, gab gesammelte Werke Hölderlins beim Verleger Cotta in Auftrag.

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1776 - NürtingenDas abgebildete Wohnhaus von Hölderlins Mutter Johanna, die mit ihrem zweiten Ehemann Christoph Gok in Nürtingen dort einzieht, wurde im Jahr 1776 auf dem ehemaligen Schlossareal durch Hölderlins späteren Lateinschullehrer Johann Georg Fischer erbaut, worüber eine Gedenktafel am Haus Auskunft gibt. An der Stelle des heutigen Hölderlinhauses stand einst der sogenannte Schweizerhof.
Desweiteren steht dort geschrieben, dass von 1798 bis 1802 die Mutter zusammen mit Hölderlins Schwester Heinrike Breunlin in diesem Haus wohnte.
Von 1826 bis 1832 bewohnten Eduard Mörikes Mutter und Geschwister das Dachgeschoss. Mörike kam regelmäßig zu Besuch und ihm gefiel besonders die Lage, was er in seinem Brief an Wilhelm Hartlaub schrieb.

1776/1777Hölderlin wird eingeschult, besucht zunächst die Lateinschule in Nürtingen und erhält Privatunterricht in Latein, damit er für die höhere Schulbildung, das Landesexamen, zugelassen wird.

13. März 1779 Johann Christoph Gok stirbt an Lungenentzündung, die er sich zugezogen hatte, als er zuvor bei einem Hochwasser in Nürtingen in seiner Funktion als Bürgermeister mit vollem Körpereinsatz mithalf, das Städtchen mit Dämmen vor den Fluten des Neckars zu schützen und sich dabei erkältete - für Hölderlin und die Mutter ein weiterer schmerzlicher Verlust. Hölderlin sah seine liebe Mutter Johanna eigentlich nur noch weinen, deshalb wollte er ihr ja auch keinen weiteren Kummer bereiten, aber sein Drang, sich geistig frei zu bewegen, war dennoch größer als seinen Dienst nach Vorschrift zu machen.

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Diese Gedenktafel wurde anlässlich des 200. Geburtstages Friedrich Hölderlins in Nürtingen neben der Kreuzkirche am Brunnen errichtet.

Auf dem Kirchhof der Kreuzkirche befanden sich früher die Gräber der Mutter Johanna und des Stiefvaters Christoph Gok.

Hölderlins Schwester Heinrike verstarb 1850 ebenfalls in Nürtingen.

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Das Foto zeigt die am Fuße der Schwäbischen Alb gelegene Karstquelle der Blau, den berühmten türkisblauen 'Blautopf' in Blaubeuren bei Ulm, wo Hölderlins Schwester Heinrike (1772-1850) nach ihrer Hochzeit mit Pfarrer Breunlin und ihren Kindern lebte und wirkte, bevor sie nach dem Tod ihres Mannes nach Nürtingen zu ihrer Mutter Johanna zog.

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20. Oktober 1784 Hölderlin besucht von nun an die Klosterschule in Denkendorf. Damals hatte er bereits viele kreative Ideen im Kopf. Um die Weihnachtszeit 1785 verspürte er eine besonders große Lust zu dichten und begann, "tausend Entwürfe zu Gedichten" zu planen.

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15. März 2020 Zu Hölderlins 250. Geburtstag wurde ihm der Hölderlin-Brunnen auf dem Klosterareal gewidmet. Die Gedenktafel besagt, dass Hölderlin von 1784 bis 1786 als Seminarist eingeschrieben war.

Ein Auszug aus seinem Gedicht Die Heimath von 1797 steht dort ebenfalls geschrieben:
"Ihr holden Ufer, die ihr mich auferzogt,
Stillt ihr der Liebe Leiden? ach! gebt ihr mir,
Ihr Wälder meiner Kindheit, wann ich
Komme, die Ruhe noch Einmal wieder?"

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Im Herbst 1786Hölderlin zieht in das Kloster Maulbronn ein, wo er schon bald mit Luise Nast, der jüngsten Tochter des Klosterverwalters, bekannt gemacht wird. Als heranwachsender Klosterschüler und zukünftiger Pfarrer soll sich Hölderlin langsam aber sicher eine Braut suchen, was sich für Hölderlin jedoch als schwierig erweist. Hölderlin und Luise Nast mochten sich zwar schon, aber in Hölderlin kamen alsbald starke Zweifel auf, weil er sich nunmal kein Leben als Pfarrer und Familienvater vorstellen konnte, und schon gar nicht in so jungen Jahren. Ihn hat es vielmehr in die Welt gezogen, um sich von Land und Leute für seine Gedichte inspirieren zu lassen.

Hölderlin begann zu hadern und fragte Gott, ob dieser eingeschlagene Weg tatsächlich der Wille seines Herrn sein sollte. Immer wieder dachte er daran, aus dem Kloster auszutreten und wollte das mit der Mutter besprechen, die ihn aber immerzu zum Bleiben überredete.
Luise bekam Hölderlins Missmut zu spüren, wofür er sich bei ihr entschuldigte, weil es ja nicht an ihr lag. In der Zeit in Maulbronn verfasste er für Luise ein paar liebe Gedichte, aber dennoch sträubte er sich generell gegen den vorgezeichneten Weg.
Hölderlin machte zunächst gute Miene und ließ die Zeit für sich arbeiten.

Anfang Dezember 2016 besuchte ich das Kloster Maulbronn mit seinem mittelalterlichen Weihnachtsmarkt. Einen Besuch ist Kloster Maulbronn als UNESCO-Weltkulturerbe immer wert. Das große Interesse von uns heutzutage hätte sich Friedrich Hölderlin zusammen mit Hermann Hesse (1877-1962) und Johannes Kepler (1571-1630) wohl nicht träumen lassen.

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Im Juni 1788Hölderlin reist von Maulbronn über Bruchsal in die Pfalz nach Speyer und Oggersheim, wo sich 1782 Schiller, der daheim Schreibverbot hatte, in einem Gasthof versteckte. Hölderlin besucht die Porzellanmanufaktur in Frankenthal sowie Mannheim (meine Geburtsstadt) mit der Jesuitenkirche und dem großen Kaufhaus am Paradeplatz - Gebäude, die Hölderlin am meisten beeindrucken; Mannheim, wo er der Vorstellung 'Der Fähnrich' im alten Nationaltheater beiwohnt und sich das lokale Bier schmecken lässt. Im alten Nationaltheater wurde Schillers 'Die Räuber' 1782 uraufgeführt. Hölderlin wandelt also auf Schillers Spuren und empfindet diese Reise als sehr erhebend. Das Mannheimer Barockschloss ist Hölderlin zu protzig, aber die Jesuitenkirche mit den Gemälden und reichen Verzierungen im Innern bezeichnet er als würdevoll.

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Der Dom zu Speyer ist das höchste und mächtigste Bauwerk, das Hölderlin bislang besucht hat.
Hölderlin beobachtet sehr interessiert die geschäftigen Leute in Lussheim bei Speyer, wie sie auf dem Rhein Schiffe beladen. Das Foto zeigt den Dom von Baden-Württemberg aus gesehen. Aus einer ähnlichen Perspektive in Lussheim dürfte sich der Dom Hölderlin aus der Ferne präsentiert haben, als Hölderlin mit einem Boot über den Rhein auf das linksrheinische Ufer nach Speyer übersetzt. Wenn ich mich recht erinnere, kostete die Überfahrt 24 Kreuzer. Das Papier, worauf Hölderlin seiner Mutter diese Reisekosten genau auflistete, ist im Schiller Nationalmuseum Marbach zu sehen.
Auch war Charlotte von Kalb vom Dom sehr angetan, als sie mit Madame de La Roche, die sie in Mannheim 1785 kennenlernte, zum Namenstag dort den Gottesdienst besuchte.

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Schwetzingen und die damals neue Brücke in Heidelberg gehören auch zu den Orten auf Hölderlins Reise. Besonders Heidelberg gefällt ihm und er verfasst sein berühmtes Gedicht 'Heidelberg', nennt die Stadt am Neckar "der Vaterlandsstädte Ländlichschönste". Auch von der Weite der Rheinebene mit Blick nach Frankreich ist Hölderlin genauso wie ich fasziniert.

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Im Kloster Maulbronn und im Evangelischen Stift zu Tübingen wird Hölderlins Lebensweg immer enger, steiler und steiniger, dennoch mit Momenten der blühenden Hoffnung begleitet.
Die vorgezeichnete Laufbahn führt ihn in eine Richtung, der er sich immer stärker entgegenstellt.

Was wird ihn am Ende erwarten?

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Mit Luises Cousin Immanuel Nast pflegt Hölderlin eine gute Freundschaft sowie auch mit dem Kunststudenten, dem angehenden Maler Franz Carl Hiemer, dem wir das allseits bekannte Gemälde Hölderlins verdanken, das Hölderlin seiner Schwester Heinrike zur Hochzeit mit Pfarrer Breunlin schenkte. Das Original-Pastell Hölderlins befindet sich heute im Schiller-Nationalmuseum in Marbach (siehe Foto), das ich 2017 mit eigenen Augen bestaunen durfte. Da ich selbst seit jeher gerne male und zeichne, sind mir die äußerst filigranen Farbstriche Hiemers aufgefallen.
Desweiteren sah ich auch die Gemälde der Mutter Johanna, des Vaters Heinrich Hölderlin, der Elisabeth Juliane Hölderlin und Theodor Heussens. Franz Carl Hiemers Portrait war leider gerade ausgeliehen.

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21. Oktober 1788 In Tübingen zieht Hölderlin mit Hegel und Schelling ins Evangelische Stift und sie beginnen ihr Studium. Anfangs wohnt Hölderlin mit bis zu sechs weiteren Studenten in einem sehr zugigen Zimmer. Er beklagt sich bei der Mutter und hofft, sie könne erwirken, dass Hölderlin in ein wärmeres Winterquartier umziehen dürfte. Von 1790 bis 1793 teilt sich Hölderlin dann mit Hegel und Schelling ein Zimmer im Studentenwohnheim.
Als Hölderlin im Herbst 1788 sein Theologiestudium beginnt, soll er sich im kommenden Frühling verloben. Hölderlins Verlobungsfeier mit Luise findet bei Familie Benjamin Nast in Leonberg statt, doch kurz danach macht Hölderlin im April 1789 ohne Vorwarnung Schluss. Er schreibt Luise einen Brief zur Erklärung. Offiziell ist Luise mit der Lösung des Eheversprechens einverstanden, hatte sie es wohl auch schon kommen sehen.

Immanuel Nast beendet seine Freundschaft mit Hölderlin. Luise Nast heiratet wenig später einen anderen, was Hölderlins Mutter ihrem Sohn in einem Brief mit einem gewissen Vorwurf mitteilt. Hölderlin ist aber froh, dass der Kelch an ihm vorübergegangen ist. Die Heirat Luisens ist für Hölderlin vielmehr der Anlass, den bewussten Entschluss zu fassen, sich niemals verheiraten zu lassen. In seinen Büchern fände er genug Trost, wie er sagt.

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Das Foto zeigt rechts die hohe Mauer des Tübinger Stifts. Der Weg führt hinunter zum Neckar, wo sich der Hölderlinturm befindet. Hölderlin ist auch diesen Weg wohl unzählige Male gegangen.

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19. August 2020 Hölderlin musste genauso wie seine Kommilitonen Hegel und Schelling im Evangelischen Stift zu Tübingen damals jegliche Art von Annehmlichkeiten entbehren. Alles war verboten, was Freude machte, wie Schlittenfahren im Winter, Reiten im Sommer, Rauchen, Alkohol (außer der üblen Tischwein-Plörre), selbst Kaffee oder schwarzen Tee zu trinken war untersagt, weil auch diese Getränke zu anregend waren, wie Adolf Beck Hölderlins Studienjahre beschrieb.
Natürlich hatten die Stiftler als angehende Pfarrer mit ihren Verlobten auch keinen vorehelichen Sex, denn damals war die Sittenlage höchst streng - das können sich heute manche Leute gar nicht vorstellen.
Hölderlin wohnte also anfangs mit sechs weiteren Studenten in einem Zimmer, wo es durch die Ritzen im Winter hereinschneite. Der Hausmeister hatte auch nur dann die Fäkalien in den Gängen zusammengekehrt, wenn es kaum noch ein Durchkommen gab und der Gestank selbst für Hartgesottene zu groß wurde, wie man mir 2018 auf der Hölderlin-Tagung im Evangelischen Stift erzählte.

Dagegen sieht Hölderlins ehemaliges Refugium bei seiner Pflegefamilie im Turm heutzutage aus, als hätte er ein Luxus-Apartment an der italienischen Riviera bewohnt. Für damalige Verhältnisse war seine Wohnlage sicherlich privilegiert. Tübingen im Hochsommer erinnert heute in der Tat an Italien, was mir auch ein Germanistik-Professor aus Mailand erfreut bestätigte.

Doch zurück zu Hölderlins Dilemma mit seinem künftigen Beruf als Pfarrer und den potenziellen Bräuten:
Nachdem Hölderlin die Verlobung mit Luise Nast gelöst hat, soll er sich nun mit der Tübinger Universitätskanzlertochter Elise Lebret verloben.
Hölderlin schreibt in seiner Zeit als Hauslehrer bei Bankier Jakob Gontard aus Frankfurt seinem Bruder Karl nach Hause, dass er "nie vorhatte, mit Elise eine engere Verbindung einzugehen". Seine Beziehung zu Elise war eher oberflächlich. Er mochte sie wohl auch nicht besonders, weil er oft Geringschätzung erdulden musste, wie er schrieb.
Elise hatte sich mit einem anderen Mann verlobt und ihre Briefe an ihren Ex-Freund Hölderlin zurückgefordert, die Hölderlin jedoch verlegt hatte, weil sich bei ihm in den letzten zwei Jahren seines Theologiestudiums bis zum Examen eine unbeschreibliche Interessenlosigkeit sowie "Frivolität", d.h. Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit, "in seinen Charakter eingeschlichen" haben, die er von sich nicht kannte, war er doch sonst nicht so nachlässig und gedankenlos. Karl Gok hatte also die unschöne Aufgabe, die Trennung von Elise im Namen Hölderlins und der gesamten Familie der angesehenen Familie Lebret zu erklären, wofür sich Hölderlin bei ihm vorab bedankt und sagt, Karl werde schon die richtigen Worte finden, um Hölderlins Verhalten zu entschuldigen.


Die deutsche Sprache des 18. Jahrhunderts

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Als Lateiner und gebildeter Mensch verwendet Hölderlin in seinen Briefen hin und wieder mal ein Wort lateinischen Ursprungs wie z.B. Vakanz (lat. vacatio für Ferien/freie Zeit), kommod (lat. commodus für bequem oder angemessen) oder eben Frivolität und frivol (lat. frivolus für bedeutungslos oder albern).
Die sexuelle Konnotation des Wortes frivol, die heute im Sinne von "schlüpfrig" stark verbreitet ist, hatte sich zu Hölderlins Lebzeiten erst langsam in französischen Romanen entwickelt. Da Hölderlin in seinem Evangelischen Stift, welches die zu lesenden Bücher der Studenten streng kontrollierte, sicherlich keine französischen Schundromane gelesen hatte, kannte er dieses Wort nur im harmlosen Sinne lateinischen Ursprungs.

Autoren des 20. Jahrhunderts (u.a. Adolf Beck, Pierre Bertaux) reißen Hölderlins Frivolitäten jedoch gerne aus dem Zusammenhang des Textes, übersetzen sie im Sinne von schamloser Wollust, Triebhaftigkeit und Draufgängertum und führen sie als "Beweis" an, dass Hölderlin angeblich seinem Bruder Karl sein "dunkles Geheimnis" (uneheliches Kind) anvertraut hätte.

Hölderlin schreibt Karl diesen besagten Brief über die verlegten Briefe an Elise, als Hölderlin schon zwei Jahre als Hauslehrer im Hause Gontard angestellt war und seine heimliche Liebesbeziehung zu Susette genoss. Hölderlin wusste nämlich nicht auf Anhieb, ob er die Briefe Elisens nach Frankfurt mitgenommen hatte oder ob die Korrespondenz noch daheim in Nürtingen bei der Mutter in Verwahrung war. (Gr. StAg, 6-1, S. 264f) Nach einigem Suchen schrieb Hölderlin seinem Bruder, dass er die Briefe nicht bei sich habe, also müsse Karl zu Hause nachschauen. Hölderlins Briefe an seine ungeliebte Freundin Elise Lebret waren damals also frivolen Inhalts, d.h. voller belangloser Worte, also eigentlich nur Blablabla, wie wir heute sagen würden. Seine Briefe enthielten lediglich Höflichkeiten und Gefälligkeiten. Hölderlin wahrte die Form des gesellschaftlichen Umgangs und guten Benehmens. Er schrieb Elise Briefe, wie man eben so manche Briefe in der Welt schreibt, wie er seinem Freund Neuffer auf dessen Frage nach der "Tübinger Geschichte" (Elise) antwortete (Gr. StAg, 6-1, S. 153).

An die Mutter schrieb Hölderlin im Dezember 1794 aus Jena: "Ich gesteh Ihnen, daß ich nach allem, wie ich sie [Elise Lebret] beurteilen muß, nicht wünschen kann, ein engeres Verhältnis mit ihr geknüpft zu haben, oder noch zu knüpfen. Ich schäze manche gute Eigenschaft an ihr. Aber ich glaube nicht, daß wir zusammen taugten." (Gr. StAg, 6-1, S. 145)
Später in Homburg, im September 1799, schrieb Hölderlin an die Mutter zu Elisens Heirat: "Es freut mich, daß die gute Lebret einen so guten Mann sich wählte, wie Ostertag ist. Sie wird glüklicher mit ihm seyn, als sie es mit mir geworden wäre. Wir taugten nicht recht zusammen, und es ist das traurige bei solchen jugendlichen Bekantschaften, daß man sich erst kennenlernt, wenn man sich schon gegenseitig attachirt hat. So sehr ich diß bei meinem lezten Aufenthalt in Wirtemberg fühlte, so war ich doch, wie Sie selber wissen, fest gesonnen, nicht leichtsinnig abzubrechen. Aber sie sah es selbst ein, sie mußte sich auch wohl erinnern, daß sie mir noch in Tübingen Beweise genug gegeben hatte, daß sie sich in mein Wesen nicht recht zu finden wußte, und daß wir beede schon damals mehr aus einer gegenseitigen Gefälligkeit, als aus wahrer Harmonie die Bekantschaft fortsezten. Überdiß wollte es sich nicht recht zu meinem Lebensplan und zu den Umständen, unter denen wir leben, schiken, daß ich so frühe Bräutigam seyn sollte. So wie ich jezt mich und unsere Zeit kenne, halte ich es für Nothwendigkeit, auf solches Glük, wer weiß, wie lange Verzicht zu thun, und ich weiß aus Erfahrung, daß man auch ein Hagestolzenleben mit Würde führen kann. Wenn ich auch Pfarrer würde, so würde ich, wenn es anders nicht ganz gegen Ihre Wünsche wäre, lieber noch unverheurathet leben, und wenn Sie sich zur Hausmutter entschließen könnten, oder ich doch in Ihrer Nähe lebte, so wäre diß mir genug." (Gr. StAg, 6-1, S. 362)

Ein Hagestolz ist eine veraltete Bezeichnung für einen alternden, kauzigen, eingefleischten Junggesellen.

Hölderlin war Frauen gegenüber charmant und höflich. Natürlich registrierte er, ob eine Frau schön und attraktiv war, und erwähnte dies auch in seinen Briefen, wie im Falle der "holden Gestalt", bei der alle rätseln, wen Hölderlin gemeint haben könnte. Das heißt aber nicht, dass Hölderlin seine gute Erziehung und die strengen Sittengesetze vergessen hätte. Frauen sollten seine Nettigkeiten und höflichen Umgangsformen auch nicht überbewerten.
Als Hölderlin seine Hauslehrerstelle in Bordeaux antrat, ärgerte sich Hölderlins Freund Christian Landauer über das hirnrissige Geschwätz der Leute daheim in Stuttgart, die Hölderlin unterstellten, nur nach Frankreich gegangen zu sein, um dort zügellose Sexabenteuer zu suchen. Auch leben manche Roman-Autoren bis heute ihre sexuellen Fantasien aus, wenn sie Hölderlins Reisen und Aufenthalte beschreiben. Aber das nur am Rande bemerkt. Das alles hat mit der harschen Realität des 18./19. Jahrhunderts nichts zu tun.

Charlotte von Kalb schreibt in ihren Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend von Sommerfesten, wo sich viele Besucher einfanden, die ihr nicht unbedingt gefielen (sie nicht "ergötzten") und sie sich gerne von "Geschwätz und frivolen Zerstreuungen" in ihre Kammer zurückzog.
Mit "frivolen Zerstreuungen" sind auch bei Charlotte von Kalb nicht wilde Sex-Orgien gemeint, sondern langweilige Unterhaltungen mit vielleicht noch albernen Gesellschaftsspielen als Zeitvertreib.
Der französische König Ludwig XIV. wollte in seinem Schloss Versailles auch keine "frivole Gartenanlage", nichts Gewöhnliches. Seine Gärten sollten etwas aussagen, seine Herrlichkeit symbolisieren. Mir scheint, als ob damals das gängige Wort 'frivol' das altmodische Wort für unser heutiges 08/15 ist.

Hölderlins viel zitierte "Reizbarkeit" ("reizbares Brüderchen") bedeutet nicht, dass Hölderlin beim Anblick von Wilhelminens Figur plötzlich von einer wahnsinnigen sexuellen Begierde erfüllt war. Er war ein Vernunftmensch und wurde nicht zu einem willenlosen Opfer äußerer weiblicher Reize und innerer sexueller Triebe, die er auch noch gleich brühwarm seiner Schwester und Mutter und seinem kirchenstrengen Schwager, Pfarrer Breunlin, gesteht, wie Kritiker Hölderlins Worte unsinnigerweise interpretieren.
Seine erste und zugleich äußerst anspruchsvolle Hauslehrertätigkeit im Schloss Waltershausen war auch nicht der Beginn seiner angeblichen Schizophrenie. Hölderlin war verständlicherweise vom Ungehorsam seines aufmüpfigen und verstockten Zöglings Fritz von Kalb genervt, denn Fritz stand als Sohn eines Freiherrn gesellschaftlich höher als der kleine angestellte Hauslehrer Hölderlin. Also ließ sich der junge adlige Fritz von Domestiken nichts vorschreiben, was ihm schon sein arroganter Vater Freiherr Heinrich von Kalb vorlebte. Erziehung ist eben Vorbild - gut wie schlecht. Das heißt auch, dass Fritz von Kalb wohl das Onanieren als völlig in Ordnung empfand, weil er wie sein Vater seine sexuellen Genüsse auslebte. Wenn in Hölderlins Umfeld jemand seinen sexuellen Spaß in freien Zügen genoss, dann waren es wohl unter den Adligen allgemein eben auch die Herrschaften von Kalb.

Das Wort "reizbar" bedeutet (u.a. laut Duden) zwar "erregbar", aber im cholerischen und nicht im sexuellen Sinne. Ein reizbarer Mensch wie Hölderlin es war, ist überempfindlich und daher leicht zu verärgern. Hölderlin war, wie Charlotte von Kalb von ihm, aber auch von sich selbst sagte, "ein Rad, das schnell läuft", d.h. dass Hölderlin auch sehr ungeduldig, streng und fordernd sein konnte, besonders was Benehmen und Umgangsformen sowie die schulischen Leistungen seines Zöglings betraf. So ähnlich beschrieb sich Charlotte von Kalb selbst und bedauerte, dass sie mit ihren jüngeren Schwestern manchmal vielleicht etwas zu hart und unnachgiebig umging.
Hölderlin hatte jedenfalls einen aufbrausenden, hitzköpfigen Charakter, den ich auch sehr gut von meinen nächsten Verwandten kenne! Und so wie ich Hölderlin mittlerweile einschätze, würde er über solche sprachlichen Fehlinterpretationen und Wort-Stümperei zu Recht nur noch den Kopf schütteln.
Hölderlin schreibt seiner Schwester Heinrike, dass ihr bloß nicht bange werden solle für ihr reizbares (cholerisches) Brüderchen, nur weil er nach der geplatzten Verlobung mit Luise Nast und während des aktuell gültigen "Verlobungsarrangements" der Familien Gok/Lebret wegen Wilhelminens "interessanter Figur" leichtsinnig und fröhlich herumalbert. Wenn Hölderlin als gut erzogener und höflicher "Gentleman" Wilhelmine ein Kompliment macht oder über sie etwas Nettes sagt, dann heißt das noch lange nicht, dass er in sie verliebt war oder sie aus bloßer Vergnügungssucht "entehrte". Viele verstehen Komplimente oft falsch bzw. interpretieren zuviel in Worte hinein. Im Gegenteil, Hölderlin sah Wilhelmine wohl lediglich als eine von vielen guten Freundinnen an und respektierte "vorzüglich" (besonders), dass sie schon versprochen war (Gr. StAg, 6-1, S. 103ff). Anfangs nannte Hölderlin seine Herrin Charlotte von Kalb auch eine gute Freundin, bis er merkte, dass sie wohl etwas mehr von ihm wollte.
Heinrike solle ihm jedenfalls keine Vorwürfe machen, was ihn nur verärgert hätte, sondern sich mal entspannen. Allerdings war das natürlich nach Hölderlins Blamage wegen der gelösten Verlobung mit Luise Nast für die gesamte Familie Gok/Hölderlin/Breunlin nicht ganz einfach, gelassen zu reagieren.

Wenn Hölderlin tatsächlich ein Auge auf Wilhelmine geworfen und somit riskiert hätte, sich ernsthaft in Schwierigkeiten zu bringen, d.h. wegen Wilhelminens Schwangerschaft so schnell wie möglich heiraten zu müssen, damit er nicht wegen vorehelichem Sex bzw. Unzucht laut Sittengesetz öffentlich ausgepeitscht oder Wilhelmine aus Waltershausen möglicherweise verjagt werden konnte, dann hätte er seiner Familie erstmal gar nichts gesagt, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Als seine verbotene Liebe zur verheirateten Susette Gontard erwachte, hatte er seiner Familie auch nichts gesagt, nur seinem vertrauten Freund Neuffer anvertraut, dass Susette ein Engel sei und er [Hölderlin] sich in einer neuen Welt befände.
Der Mutter hätte es aber sehr wohl gefallen, wenn Hölderlin Vater und durch eine Heirat sesshaft geworden wäre, weil er ein anständiges Weib am Herd an seiner Seite gehabt hätte. Als Witwe war Wilhelmine absolut gesellschaftsfähig, jedenfalls eine bessere Partie als eine geschiedene Frau (wie die Frau seines Schulfreundes Schelling) und nicht beschämend wie eine heimliche, verbotene Liäson mit einer verheirateten Frau (Bankiersgattin Susette Gontard).
Daher verstehe ich das Argument von Pierre Bertaux überhaupt nicht, warum Hölderlin angeblich nicht der Vater von Wilhelminens Kind sein "durfte". Die Kirche hätte Hölderlin öffentlich angeprangert und ihn zur väterlichen Verantwortung und Verheiratung gezwungen. Auch ist die Behauptung von Pierre Bertaux falsch, dass Hölderlin nur wegen Wilhelminens Schwangerschaft und erst nach Auflösung seines Dienstverhältnisses im Dezember nach Jena gegangen sein soll.
Charlotte von Kalb hatte Hölderlin nicht wegen Unzucht rausgeworfen, sondern Hölderlin hatte von selbst gekündigt, weil ihm sein Zögling den letzten Nerv raubte und er sich in Ruhe auf seine Dichtung konzentrieren wollte.
Das Studium in Jena und die Zusammenarbeit mit Schiller war von langer Hand geplant. Hölderlin erwähnte schon im Frühjar 1794, dass er im Herbst mit seinem Zögling Fritz nach Jena gehen wolle. Im Oktober 1794 schrieb Hölderlin seinem Freund Neuffer, dass er ab November in Jena Vorlesungen an der Uni besuchen werde. Anfang November schrieb Hölderlin tatsächlich aus Jena und teilte Neuffer seine neue Adresse mit (Gr. StAg, 6-1, S. 138).

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Das Foto zeigt die St. Georgskirche in Waltershausen. Dahinter befindet sich das Schloss der Familie von Kalb.

Wenn Hölderlin der Vater gewesen wäre, dann hätten er und Wilhelmine, sobald sie wusste oder ahnte, dass sie schwanger war, sich noch mithilfe der Herrschaften von Kalb als Trauzeugen gleich nebenan in der Kapelle im Grabfeld auf Schloss Waltershausen bei Nacht und Nebel schnell vom Dorfpfarrer Nenninger trauen lassen können, ohne dass jemand in Waltershausen/Meiningen eine uneheliche Schwangerschaft überhaupt bemerkt hätte, die sonst hätte angezeigt werden können.
Das Ehepaar von Kalb hätte sich sonst dann auch der Kuppelei öffentlich schuldig gemacht. Wilhelmine in eine neue Stelle bei Fremden zu schicken, hätte das Schwangerschaftsproblem nicht gelöst. Fremde Familien hätten keine schwangere Single-Frau eingestellt, wie Pierre Bertaux glaubte, denn sonst wären die Sittenwächter gleich vor der Tür gestanden.

Charlotte von Kalb hatte Hölderlin mit Wilhelminens angeblich neuer Stelle in Meiningen angelogen, damit niemand die heimliche Geburt des unehelichen Kindes in Weimar mit Wilhelmine in Verbindung bringt. Da Hölderlin ja auch gar nicht der Vater war, gab es deshalb keinen Grund, Hölderlin einzuweihen.
Der Vater des Kindes der Wilhelmine Kirms kann nur Freiherr Heinrich von Kalb persönlich sein. Laut Taufbucheintrag im Kirchenregister zu Weimar wurde Freiherr von Kalb am 12. Juni 1795 als Vater einer Tochter eingetragen, also in dem besagten Zeitraum, als Wilhelmine Kirms niedergekommen sein musste. Wäre Hölderlin der Vater, dann hätte der Major nicht das Kind seiner Domestiken in seinen Stammbaum als sein eigenes Fleisch und Blut aufgenommen. Es steht auch nirgendwo geschrieben, dass Charlotte von Kalb zeitgleich mit Wilhelmine schwanger gewesen wäre. Das Ehepaar von Kalb hatte alle Hände voll zu tun, verräterische Spuren der adligen Schande zu verwischen.

Wilhelmine mochte Hölderlin als Mensch und guten Freund sicherlich auch gerne, aber sie hätte niemals ihre Chance vertan, als Mätresse und Mutter der Kinder eines adligen Herren ihren gesellschaftlichen Aufstieg zu gefährden - wie ihre Mutter ihr bereits vorgemacht hatte, wie man als Webersfrau zur Baronin werden kann.

Allerdings muss ich sagen, dass sich Hölderlin seine recht unbedachte Bemerkung im Brief an seine gesamte Familie hätte sparen können, vor allem, wenn er damals geahnt hätte, dass seine Äußerung einen ganzen Rattenschwanz an Verleumdern in den Medien des 20./21. Jahrhunderts zur Folge hat, der auch noch seine Mutter Johanna in den Dreck zieht, weil man ihr ebenfalls unterstellt, heute nicht vorhandene "erotische" Briefe zwischen Wilhelmine und Hölderlin von damals als "Beweise" vernichtet zu haben - Briefe, die aber niemals existiert haben!
Hölderlin hatte keinen Briefwechsel mit Wilhelmine. Wozu auch? Autoren geht wirklich die Fantasie durch! Hölderlin hat vielleicht durch sein gutes Aussehen und sein Charisma wohl eben auch die Fantasie der Menschen beflügelt, aber dennoch handelt es sich hier um einen klassischen Fall von Rufschädigung und Diffamierung Hölderlins und seiner Mutter Johanna.
Ich kann gut verstehen, dass sich Hölderlin selbst, aber auch seine Eltern und weitere Ahnen heutzutage deswegen im Grabe herumdrehen.

A propos uneheliches Kind:
Hölderlin schrieb im 'Hyperion' der 'Diotima' die Worte zu: "Ich will auch keine Kinder. Ich gönne sie nicht der Sklavenwelt."
Seiner Schwester Heinrike schrieb Hölderlin, dass er viel klüger wäre, seit er Hofmeister sei und Wilhelmine "noch zehnmal klüger" als er. Logisch, Wilhelmine hatte schon eine Zwangsehe mit einem alten reichen Mann hinter sich und dahingehend mehr Lebenserfahrung als Hölderlin. Wilhelmine musste sich auf Anordnung ihrer schlechten Mutter beim Major von Kalb in den Adelsstand hochschlafen, d.h. sie war gewissermaßen "versprochen", besser gesagt verpflichtet, die Nachkommen des Freiherrn auszutragen. Solche Arrangements zwischen adligen/nichtadligen Familien waren damals bei Adligen üblich. Besonders Wilhelminens Familie mütterlicherseits hatte dadurch einige Vorteile.

Hölderlin hatte Wilhelmine als eine wohlmeinende Gleichgesinnte sehr geschätzt, also als eine Freundin im wahrsten Sinne des Wortes, die er ungerne verlor, wie er sagte. Nach zwei abgelehnten Verlobten hatte Hölderlin von den Weibern als potenzielle Bräute die Nase erstmal gestrichen voll. "In Jena lassen mich die Weiber eiskalt", wie Hölderlin schrieb.
Er wollte sich endlich voll und ganz auf das Schreiben konzentrieren und als Dichter mit Schillers und Cottas Hilfe seine Texte veröffentlichen.

Falsche Textinterpretationen (z.B. bei Pierre Bertaux) kommen auch vor, da die deutsche Sprache des 18. Jahrhunderts selbst für deutsche Muttersprachler im 21. Jahrhundert manchmal schwer zu verstehen und daher etwas gewöhnungsbedürftig ist. Beispielsweise schreibt Susette Gontard Hölderlin in einem Brief, sie habe ihm "Schwachheiten entdeckt", d.h. sie hat ihm ihre Schwäche (die Eifersucht auf Charlotte von Kalb) offenbart, die "vor dem hohen Ideal der Liebe zu verdammen" sei, sonst aber "Schonung verdiene". "Du verstehst mich!" - Susette bittet Hölderlin also, er möge ihr ein so hässliches Gefühl wie Eifersucht als menschliche Schwäche nachsehen, weil sie ihn doch so sehr liebt.

Auch hier wird der Brief Susettens oftmals sinnentstellt, weil z.B. Pierre Bertaux das Wort "an" hinzufügt und Susette mit den Worten zitiert "Ich habe an dir Schwachheiten entdeckt", was Bertaux auch als weiteren "Beweis" des "dunklen Geheimnisses" anführt.
Nein, Susette hat nicht an Hölderlin irgendwelche Schwächen (draufgängerisches und unanständiges Verhalten) entdeckt. Autoren des 20. Jahrhunderts unterstellen Hölderlin das uneheliche Kind und somit Verantwortungslosigkeit, Bigotterie, Unredlichkeit und Heuchelei.

Das Wort "entdecken" im Sinne von "mitteilen" benutzten auch andere. Charlotte von Kalb schreibt in ihren Erinnerungen, dass man ihr nicht gleich die genauen Umstände zum qualvollen Tod ihres lieben Bruders "entdeckte" = sagte/mitteilte.

Wenn Hölderlin, Susette und andere Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts von Freund oder Freundin sprechen, ist der Begriff im 18. Jahrhundert nicht in dem Sinne zu verstehen, wie Jugendliche ihn hauptsächlich heute im 21. Jahrhundert verstehen. Freund oder Freundin waren im 18. Jahrhundert in erster Linie Menschen, die einem wohlwollend waren, mit denen man sich gut verstand - also keine Feinde, sondern Freunde im wahrsten Sinne des Wortes. "Tausend Empfehlungen an meine edlen Freundinnen und Freunde ! Ewig Euer Hölderlin" (Gr. StAg, 6-1, S. 101), schreibt Hölderlin seinen Freunden Stäudlin und Neuffer.
Hölderlin bezeichnete Wilhelmine sowie Elise Lebret als eine Freundin. Mit seinen Verlobten Luise Nast und Elise Lebret hatte Hölderlin auch keinen vorehelichen Sex. Diese Verbindungen waren Arrangements unter den Familien und der Kirche. Ich weiß nicht, wie die Kirche und die Familien darauf reagiert hätten, wenn sich Hölderlin dahingehend daneben benommen und Louise oder Elise "entehrt" hätte. Solche Vermutungen der Kritiker sind daher völlig abwegig und die Begriffe "Liebesbeziehung" und "Verhältnis", die Sex implizieren, sind im Zusammenhang mit Hölderlins Verlobungen sprachlich irreführend bzw. schlichtweg falsch.
Auch mit Charlotte und dem Major von Kalb verband ihn eine Freundschaft wie er anfangs schrieb. Einzig Susette Gontard war eine Frau (Weib), mit der Hölderlin eine (heimliche) Liebesbeziehung hatte.

Handelte es sich um Frauen, die sich allein versorgen mussten (z.B. Gouvernanten), oder wenn es sich um eine Ehe oder ein sexuelles, eheähnliches Verhältnis handelte, dann wurden die Frauen damals meistens als Weib bezeichnet. Hölderlins Freunde sagten, dass Hölderlin ein Weib (Susette) in Frankfurt hatte. In keinen Briefen der Freunde Hölderlins las ich bisher, dass Hölderlin ein Weib in Waltershausen/Meiningen oder Weimar/Jena gehabt hätte oder sogar heimlich Vater geworden wäre.
Hölderlin bezeichnete die Gesellschafterin Wilhelmine Kirms als "ein verständiges, gutes und festes Weib". Damit meinte er einfach nur, dass Wilhelmine mit ihrer Bildung, ihrem wohl kräftigen Körperbau und gesunden Verfassung durchaus in der Lage sei, auch ohne die finanzielle Hilfe ihrer schlechten Mutter oder das Erbe ihres verstorbenen Mannes im Leben ihren Mann zu stehen.

Bisher machte sich allein Ernst Schwendler als Bekannter der Charlotte von Kalb und der Meininger Gesellschaft wichtig, indem er vielsagend nicht viel sagte, nämlich nur, dass er von Hölderlin und "der Kirms" (Wilhelmine) etwas wüsste. Wenn Schwendlers Andeutungen wahr gewesen wären, dann wäre es wohl nicht bei einem Gerücht geblieben. Hölderlin hätte durch eine Anzeige laut Sittengesetz, das u.a. in Waltershausen und Weimar galt, wegen Unzucht öffentlich an den Pranger gestellt werden können. Dann wäre auch seine Vaterschaft im Kirchenbuch mit einem Tadel niedergeschrieben (wie bei den drei unehelichen Kindern des Freiherrn von Kalb mit seiner Köchin) und Hölderlin für zwei Wochen als Strafe zunächst ins Gefängnis gesteckt worden.
Fakt ist aber, dass Hölderlin ungehindert seiner Wege von Waltershausen/Meiningen bis nach Weimar/Jena gehen konnte ... und wieder zurück nach Hause. Man stellt das Wort und die Glaubwürdigkeit Schwendlers über das Wort und die Glaubwürdigkeit Hölderlins - ohne weitere eingehende Prüfung.

Mehr zu den Kirchenbucheinträgen der unehelichen Tochter der Wilhelmine Kirms im Abschnitt 28. Dezember 1793 - Schloss Waltershausen
1788 bilden die Stiftler Friedrich Hölderlin, Christian Ludwig Neuffer und Rudolf Friedrich Heinrich Magenau einen Dichterbund. 1792 erzählt Hölderlin Magenau von seinem Plan, den 'Hyperion' zu schreiben, wozu Magenau ihn noch ermuntert. Gotthold Friedrich Stäudlin, der Hölderlin entdeckt und fördert, veröffentlicht in seinem Musenalmanach des Jahres 1792 erstmals vier Gedichte Hölderlins. Im September 1793 lobt Stäudlin Hölderlins 'Hyperion' und bezeugt "die schöne Sprache" und "das Lebendige der Darstellung". 1793 lernt Hölderlin auch den Jura-Studenten Isaac von Sinclair kennen, mit dem er 1795 kurze Zeit in Jena und nach dem Tod Susettens in Homburg wohnen wird (aus: Adolf Becks Hölderlin - Chronik seines Lebens).

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Das Foto zeigt das Wohnhaus des Verlegers Johann Friedrich Cotta (ab 1822 Freiherr von Cotta) im Stadtkern Tübingens, in dem laut einer Gedenktafel an der Hauswand Goethe vom 07. bis zum 16. September 1797 zu Gast war.

1797 druckte Cotta Hölderlins kompletten Briefroman 'Hyperion oder der Eremit in Griechenland'.
Auf der Stuttgarter Antiquariatsmesse durfte ich eine Erstausgabe in Händen halten, welche mittlerweile im unteren fünfstelligen Bereich gehandelt wird. Meiner Ansicht nach gehören solche Schätze in ein Museum, das beste Lagerungsbedingungen hat, um das Papier vor dem Zerfall zu retten.

1793 berichtet Stäudlin Schiller von Hölderlins Schreibtalent und empfiehlt ihm, Hölderlin unter seine Fittiche zu nehmen. Daraufhin schlägt Schiller der Freifrau Charlotte von Kalb (Schillers Ex-Geliebte) aus dem fränkischen Waltershausen bei Meiningen Hölderlin mit gewissen Vorbehalten vor, als sie für ihren neunjährigen Sohn Fritz einen Privatlehrer (veraltet: Hofmeister) sucht. Schiller, der durch eine Intrige des Freiherrn von Kalb dessen Ehefrau Charlotte von Kalb als ihr früherer Liebhaber wegen Charlotte von Lengefeld schnöde sitzenließ, hat bei Charlotte von Kalb wohl noch etwas gut zu machen. Schiller schwärmt Charlotte vor, dass ihr Hölderlins "Äußeres sicher gefallen" werde, wie Adolf Beck es in seinem Buch beschrieb.

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Das Foto zeigt das alte Bamberger Rathaus.

Am 26. Dezember 1793 schreibt Hölderlin seiner Mutter aus Coburg, als er auf dem Wege von Stuttgart nach Waltershausen war, um seine erste Hofmeisterstelle bei den Herrschaften von Kalb anzutreten. Wegen des streckenweise schlechten Weges war er etwas verspätet.
Seine Reisekosten erstatteten ihm die Herrschaften von Kalb, was Hölderlin seiner Mutter gleich nach seiner Ankunft mitteilte.

Am 30. Dezember 1793 beschreibt Hölderlin seinen Freunden Stäudlin und Neuffer seine Reiseroute per Postwagen: "Über meine Reise von Stuttgart bis Nürnberg kann ich euch nichts sagen. Ich schloß meist die Augen, und ließ euch, und was mir sonst lieb ist, vor mir erscheinen.

In Nürnberg lebt' ich auf. Mit HE. Ludwig wurd ein rechtes gespaßt, und getumultuirt. Zum Journal will er nur wenig beitragen, weil ihm seine Englischen Blätter so viel zu schaffen machen. Er verspricht, einen Verleger für das Journal aufzubringen, wenn er wie er sich ausdrükte, eine recht beträchtliche Anzal von Mitarbeitern aufweisen können werde. Sein Mund ist leibhaftig die Posaune des Egoismus. Übrigens war ich, wie gesagt, recht vergnügt mit ihm. Dienstags (denn Sonntags kam ich in Nürnberg an) fuhr ich nach Erlang hinüber und feierte da den Christtag in der Universitätskirche, wo Prof. Ammon eine herrliche schön und hell gedachte Predigt hielt, womit er wenigstens zehen Scheiterhaufen und Anathema's verdiente. Mittwoch Abends reist' ich wieder von Erlangen ab, kam spät nach Mitternacht in Bamberg an, auf einem verdamt kalten und unsichem Wege, wo man uns wegen den Diebsbanden in den Wäldern einen Husaren entgegenschikte. Von Bamberg bis Koburg, wo ich Donnerstag Abends ankam, hatt' ich den ganzen Tag über das himmlische Thal, das von der Ize durchflössen wird, vor und hinter mir. (Im Vorbeigehen! in ganz Franken bemerkt' ich zu meinem großen Verdrusse, wie ihr denken könnt, laute Unzufriedenheit mit der woltätigen preußischen Regierung […] In Koburg reist ich Freitag Morgens um 3 Uhr mit Extrapost ab, und kam Abends hier an, traff an HE. Major von Kalb, (der in französischen Diensten war, und unter Lafaiette den Amerikanischen Krieg mitmachte,) den humansten gebildetsten Mann, eine Freundin [Wilhelmine] der Frau von K. [Charlotte], die noch mit zwei Kindern [Edda und der im Oktober 1793 geborene August Wilhelm] in Jena ist, meinen künftigen Zögling [Fritz], einen schönen guten Buben, aber auch noch den Hofmeister an, der, wie das ganze Haus, noch kein Wort von meiner Ankunft wußte, und mich ungeachtet seines klugen edlen Benehmens in große Verlegenheit sezte. Sprechen Sie doch mit Schiller über dieses, lieber Doktor ! Der Major tröstet mich so gut er kann über die gespannte Lage." (Gr. StAg, 6-1, S. 100f)

Wilhelmine hatte Charlotte von Kalb nach deren schweren Geburt mit ihrem Sohn August Wilhelm nicht in Jena weiterhin beigestanden und dort die Tochter Edda betreut, sondern blieb beim Major von Kalb in Waltershausen mit dem Rest der Dienerschaft. Wilhelmine scheint von Beginn an wegen des außerehelichen Arrangements mit dem Freiherrn von Kalb nach Waltershausen gekommen zu sein.

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Das Foto zeigt den Marktplatz von Bad Königshofen mit dem Rathaus links.

Hölderlin hatte in seiner Zeit als Hofmeister im Schloss Waltershausen auch dieses schöne Städtchen auf eigene Faust erkundet. Immer wieder hatte er sich eine kleine Auszeit genommen. Er wanderte gerne allein durch die Landschaft, oftmals nach Römhild, um mit sich allein und "unabhängig von der Welt" zu sein, wie er schrieb.


28. Dezember 1793 - Schloss Waltershausen

Hölderlin kommt im Schloss Waltershausen an, was die Schlossbewohner zunächst verwundert. Die Schlossherrin und Gattin des Freiherrn Heinrich von Kalb, Charlotte von Kalb, die im Oktober 1793 ihr viertes Kind, ihren zweiten Sohn August Wilhelm, in Jena gebar, kam erst im März 1794 wieder zurück ins Schloss. Die Geburt war mit großen Komplikationen verlaufen, daher brauchte sie ein halbes Jahr für ihre Genesung und hatte Hölderlin als neuen Hauslehrer für ihren neunjährigen Sohn Fritz nicht im Schloss ankündigen können.
Der arbeitslose Schlossherr Heinrich von Kalb, ehemals Major im französischen Fremdenregiment Zweibrücken (Königliches Infanterieregiment Zweibrücken - Régiment Royal Deux Ponts), weilt mit der Lausitzer Gesellschafterin Wilhelmine Kirms und den anderen Bediensteten daheim im Schloss und langweilt sich, seit er im Zuge der Französischen Revolution als deutscher Adliger vor den Jakobinern fliehen musste, die ihm vorwarfen, dem französischen König 1791 zur Flucht verholfen zu haben. Das deutsche Regiment hatte Von Kalb auch nicht mehr verpflichtet, sodass er vom Familienvermögen seiner Frau Charlotte leben muss und genug Zeit hat, mit Hölderlin unbedingt auf die Jagd gehen zu wollen, um ihm das Schießen beizubringen. Hölderlin ist davon weniger begeistert und froh, dass er bislang noch nicht einmal einen Hasen geschossen hat.

Das Ehepaar Heinrich und Charlotte von Kalb (gebürtige Marschalk von Ostheim) war wie viele Adlige nicht aus Liebe, sondern aus dynastischen und finanziellen Gründen verheiratet worden. Charlotte wurde schon im Kindesalter zur Vollwaise und blieb immer ungeliebt, weil sie "nur" ein Mädchen war, deshalb ist es für sie traurig, dass sie letztlich auch von ihren Liebhabern nicht geliebt wurde. Ihr größter Schmerz war, dass Schiller, die Liebe ihres Lebens, sie verschmähte und wie der Dichter Jean Paul eine andere heiratete. Durch eine Intrige entfernte sich Schiller von Charlotte. Bedienstete hatten in Weimar einen Liebesbrief Schillers an Charlotte entwendet. Freiherr Heinrich von Kalb schrieb Schiller, dass er sich von Charlotte fernhalten solle. Charlotte würde sich niemals von ihrer Familie trennen, wie Schiller an Körner schrieb.
Hölderlin hatte sich Charlotte von Kalb von vornherein verweigert, was Charlotte bedauerte, da sie sich mit ihm seelenverwandt fühlte und Hölderlins 'Hyperion' als Inspiration für ihre Werke ansah, wie Emil Palleske 1879 schrieb.

Es war von jeher üblich, dass sich die adligen Herren das Privileg herausnahmen, sich ihre außerehelichen Liebschaften zu gönnen. Mit dem Verstreuen ihres Samens sicherten die Adligen ihre politische Macht und ihren gesellschaftlichen Einfluss. Es war also geradezu erwünscht, möglichst viele Kinder (eheliche und uneheliche) in die Welt zu setzen, auch weil die Kindersterblichkeit hoch war und selbst die Mütter oftmals das Wochenbett nicht überlebten. Die Kinder der Mätressen wohnten meistens bei ihren Müttern im Haushalt der Herrschaften und konnten dann für Posten innerhalb der Herrschaft besetzt bzw. sogar in den Adelsstand erhoben werden.
Freiherr Heinrich von Kalb war da keine Ausnahme. Laut Ursula Naumann war Von Kalb bekannt für seine "noblen Passionen". Offensichtlich vergnügte er sich u.a. auch mit seinen Bediensteten (wohl mit der Ratswitwe Wilhelmine Marianne Kirms und der Lehrerstochter Anna Barbara Todt), gestand jedoch seiner Frau Charlotte ebenfalls ihre Liebhaber zu, sodass sich beide in ihrer Ehe zunächst ganz gut arrangierten, wie es mir heute erscheint.

Da im 18. Jahrhundert die Sittenlage sehr streng war, konnten sich die Adligen (je nach Ranghöhe) mehr oder minder offiziell Nebenfrauen bzw. Nebenmänner leisten. Für die einfache Bevölkerung galten äußerst strenge Sittengesetze, besonders in Sachsen-Weimar wie Helmut Wurm in seinem Manuskript über Goethe eindrucksvoll beschreibt, auch um Geschlechtskrankheiten beim Gesinde einzudämmen, d.h. dass vorehelicher Sex selbst unter Verlobten sowie unehelicher Sex nicht selten mit Pranger, Gefängnis sowie Geld- und Kirchenbuße bestraft wurde.

Als ich 2018 das Schloss Waltershausen besuchte, zeigte mir der Schlosseigentümer Herr Dr. Möbius eine Tür, die in den Kerker führte, und erzählte, dass früher die Delinquenten dort einsaßen und auf ihren Prozess warteten. Sie wurden dann zum Gericht nach Bad Königshofen überstellt. Auf Mord stand die Todesstrafe.

In Waltershausen wurde ein Ehebruch also mit Gefängnis und öffentlichem Auspeitschen am Pranger bestraft. Der Kreisheimat- und Archivpfleger Reinhold Albert beschrieb 2007 einen Fall von Ehebruch in Waltershausen im 17. Jahrhundert. Die Schlossmagd wurde aus dem Dorf Waltershausen getrieben und der Ehebrecher landete nach seiner Gefängnisstrafe am Pranger mit 60 Peitschenhieben an zwei verschiedenen Tagen. Seine anschließende Kirchenbuße wurde dann in den Kirchenbüchern vermerkt.
Die Kirchenbücher sind streng nach ehelichen und unehelichen Geburten getrennt. In den Kirchenbüchern mit den unehelichen Geburten datiert auf Anfang des 19. Jahrhunderts kamen dann auch die drei illegitimen Kinder der Schlossköchin Anna Barbara Todt mit Freiherr Heinrich von Kalb zum Vorschein, wie Reinhold Albert überrascht feststellte. Charlotte von Kalb hatte sich bereits von ihrem Mann getrennt, sodass Heinrich von Kalb in einem eheähnlichen Verhältnis mit seiner Köchin lebte, was wohl zunächst geduldet wurde, später wohl eher nicht mehr, weshalb sich der Major auch deswegen erschoss. Da Von Kalb adlig war, könnte es gut möglich sein, dass er eher nicht an den Pranger kam, sondern wohl mit einer großzügigen "Geldspende" für die Kirche (quasi mit einer Geldstrafe) seinen adligen Kopf aus der Schlinge ziehen konnte.

Insgesamt hatte Freiherr Heinrich von Kalb wohl mindestens 7 Kinder (3 eheliche und 4 uneheliche), von denen wir heute zumindest wissen. Wer weiß schon, was er sonst auf seinen Feldzügen durch Amerika oder im Zuge seiner Tätigkeit als Offizier in seiner französischen Garnison im Pfälzischen Landau noch für Geheimnisse mit sich herumschleppte, die ihn letztlich zum Suizid veranlassten.

Hölderlin hatte von Wilhelminens Schwangerschaft wohl eher nichts mitbekommen. Hätte er das uneheliche Kind mit ihr, dann wären er und Wilhelmine wegen Unzucht zur Rechenschaft gezogen worden, denn ein Säugling ("Corpus Delicti") verschwindet nicht einfach, nur weil Hölderlin seiner Wege gegangen war. Hölderlin hätte nach seiner Strafe und Kirchenbuße Wilhelmine heiraten müssen, was dann auch mit einem entsprechenden Tadel im Kirchenbuch vermerkt gewesen wäre - nach langem Suchen haben wir bis jetzt aber keinen Kirchenbucheintrag gefunden, der besagt, dass unser Vorfahre Friedrich Hölderlin Vater einer Tochter wäre.
Hölderlin war zudem ja auch nicht dumm. Er kannte doch das Leben und die Sitten im 18. Jahrhundert. Er war gut erzogen und ein ernster, frommer und gewissenhafter Mensch, der die arme Wilhelmine aus bloßer Vergnügungssucht nicht einfach ihrem Schicksal überlassen hätte, wie Kritiker heute behaupten. Auch die Behauptung, sein Job in Waltershausen sei der Beginn seiner angeblichen Schizophrenie nach dem Motto, Hölderlin wüsste nicht, was er tut, ist demnach bis jetzt völlig haltlos.
Hölderlin hätte es mit seiner ersten Verlobten, Luise Nast, sehr viel einfacher haben können, wenn er bloß auf sein sexuelles Vergnügen bedacht gewesen wäre, denn er hätte sich gleich nach seinem Studium verheiraten lassen können.
Hölderlin wollte aber nicht heiraten und hatte sich daher auch nichts vorzuwerfen. Überdies hätte er seiner Mutter Johanna Gok, die dem Pfarradel und Stand der Ehrbarkeit angehörte, diesbezüglich keine Schande gemacht.
Der Major von Kalb hatte hingegen keinerlei Skrupel, was sein Vergnügen betraf. Er hätte sogar seiner Frau Charlotte ihren lieben Sohn Fritz weggenommen, wenn sie diese Farce von einer Ehe schon früher beendet hätte, als Fritz erst ein paar Jahre alt war - was sie aber ab dem Jahr 1800 dann doch tat, als Anna Barbara Todt den ersten unehelichen Sohn gebar und Fritz von Kalb dann schon 16 Jahre alt und auf dem besten Wege war, wie sein Vater eine militärische Laufbahn einzuschlagen. Fritz machte schließlich Karriere als Ulanenrittmeister in Düsseldorf (Palleske, 1879).

Die strengen Sittengesetze galten in Waltershausen noch bis Ende des 19. Jahrhunderts, wie Reinhold Albert in seinem Vortrag sagte.
Frühere Generationen hatten ziemlich erfolgreich versucht, die schändliche Wahrheit über die Nachkommen des Freiherrn von Kalb in den Waltershäuser Katakomben unter Verschluss zu halten. Dennoch scheint sich die Wahrheit selbst über Jahrhunderte hinweg früher oder später wieder ans Tageslicht zu drängen. Verständlich, wenn Reinhold Albert über diesen Fund überrascht gewesen sein sollte.
Kann ich verstehen, denn ich war ebenso überrascht, als ich ein heute rares, originales Buch von Emil Palleske mit der urkundlichen Abschrift der Geburt der Tochter des Freiherrn Heinrich von Kalb in Weimar in Händen hielt. Die Kirchenbucheinträge decken sich mit den urkundlichen Abschriften, die der Verein für Heimatgeschichte im Grabfeld und das Museumspädagogische Zentrum Bad Königshofen im Grabfeld unter Reinhold Albert in den Heimatblättern herausgab.
Wenn sich Hölderlin mit Wilhelmine in Schwierigkeiten gebracht hätte, dann hätte Reinhold Albert spätestens beim Durchsehen der Kirchenbücher aus dem Grabfeld kompromittierende Einträge finden müssen. Adolf Beck hatte ebenso nichts über Hölderlin in Meiningen gefunden, daher muss man nach wie vor von einem Gerücht und der Verleumdung Hölderlins ausgehen.
1879 veröffentlichte der Schriftsteller Emil Palleske die Gedenkblätter der Charlotte von Kalb mit vielen weiteren interessanten Kirchenbucheinträgen ihrer Familie Marschalk von Ostheim. Die Tochter, die zur besagten Zeit der Niederkunft der Wilhelmine Kirms dann im Juli, wenige Wochen alt, von Herder als verstorben eingetragen wurde, ist genau der Versuch, die uneheliche Tochter des Majors von Kalb und "der Kirms" zu vertuschen.

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Das Foto zeigt das Schloss Waltershausen im fränkischen Saal a.d. Saale unweit der thüringischen Landesgrenze und der Stadt Meiningen.
Im September 2018 hatten mich die Schlosseigentümer freundlicherweise durch das Schloss, die Privaträume und den großen Garten geführt.
Auch Hölderlins Zimmer in einem der Schlosstürme (Foto) mit Blick über die Baumwipfel nach Thüringen wurde mir gezeigt.
Hölderlin schrieb, dass er ein sehr schönes Zimmer hätte. Ja, ich finde auch, dass es eigentlich sogar das schönste und gemütlichste Zimmer im Schloss ist, das meine kreative Ader auch gleich angesprochen hat.
So kann ich mir gut vorstellen, dass Hölderlin anfangs eine gute Aura hatte, um am 'Hyperion' weiterzuschreiben. Wäre da nur nicht die ganze Unbill mit seinem Zögling Fritz gewesen, die Hölderlin seine Lust zu dichten beinahe völlig vergällt hatte, sodass er nach einem Jahr kündigte.

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Der Ortsteil Waltershausen liegt in einer sehr ländlichen Gegend wie man auf dem Foto sieht und kann leicht mit Waltershausen bei Gotha verwechselt werden.

"Das Schloß liegt über dem Dorfe auf dem Berge, und ich habe eines der angenemsten Zimmer. Auch sind die Menschen hier, so viel ich sie bisher kennen lernen konnte, recht guter Art. Mit dem Pfarrer besonders bin ich schon recht gut Freund. Ich möchte unter solchen Umständen in keine Stadt. Die Pferde des Majors kann ich benüzen, wann ich will.", schreibt Hölderlin seiner liebsten Mamma. (Gr. StAg, 6-1, S. 102)

Hölderlin freut sich also zunächst über großzügige Gesten seines Brotgebers, des Freiherrn Heinrich von Kalb, der ihm dessen Pferde zur freien Verfügung stellt. Hölderlin darf ausreiten, wann er will, und schreibt, dass er den Major wohl einen Freund nennen dürfe. Mit dem Dorfpfarrer pflegt Hölderlin auch gerne mal ein Bier zu trinken, welches ihm recht gut schmeckt, sodass Hölderlin seinen Neckarwein gar nicht so sehr vermisst.

Die Gesellschafterin Wilhelmine Kirms, eine junge Witwe aus der Lausitz (aus Dresden wie Hölderlin schreibt), die seit 1792 in Diensten der Familie von Kalb steht und u.a. die dreijährige Tochter Edda von Kalb betreut, ist sehr gebildet und versteht sich mit Hölderlin auf Anhieb, denn sie ist die Einzige im Schloss, mit der Hölderlin fachsimpeln und z.B. die neuesten Schriften von Kant besprechen kann.

Hölderlin kniet sich richtig in die Vorbereitung des Unterrichts, um seinem Zögling Fritz von Kalb die bestmögliche Bildung und Erziehung zukommen zu lassen. Im kommenden Herbst (1794) will Hölderlin mit seinem Zögling nach Jena gehen, um sich an der Universität einzuschreiben und mit Schiller noch enger zusammenzuarbeiten. Seinen Job als Erzieher wird Hölderlin dann auch weiterhin brauchen, um in Jena das Brot über Nacht zu haben. Alles in allem fühlt sich Hölderlin zum ersten Mal frei und unbeschwert. Er ist froh, den Zwängen der Kirche vorerst den Rücken gekehrt zu haben und hegt große Hoffnungen, als Dichter durchstarten zu können.

Charlotte von Kalb pflegt eine Freundschaft mit Goethe und Schiller und fördert junge brotlose Künstler wie Jean Paul, mit dem sie nach Schiller Jahre später ebenfalls eine Affäre beginnt. Im Gegensatz zu ihrem Gatten Heinrich von Kalb, der als ungehobelter Haudegen gilt und sie nur wegen ihres Geldes geheiratet hatte, hat sie einen Sinn für die Literatur bzw. Poesie und hegt selbst schriftstellerische Ambitionen. Um ihrer Zwangsehe zeitweise zu entfliehen, sucht sich Charlotte ihre Liebhaber gerne in Dichterkreisen, wollte sie sich schon nach der Geburt ihrer früh verstorbenen Tochter Adelheid Antoinette Sophia, die 1786 auf dem Höhepunkt der leidenschaftlichen Beziehung zu Schiller das Licht der Welt erblickte, von ihrem Mann Heinrich trennen. 1787 erwog Charlotte sogar die Scheidung und machte Schiller einen Heiratsantrag, was dieser jedoch ablehnte.

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Das Foto zeigt Goethes Wohnhaus in Weimar.

Charlotte ist eher selten im Schloss und genießt das gesellschaftliche Leben in Weimar mit literarischen Abenden und Empfängen, trifft Persönlichkeiten wie Charlotte von Stein, die Herzogin Anna Amalia und Johann Gottfried Herder, die für ihre Kinder sogar Taufpaten waren.
Charlotte von Kalb, "die Majorin", wie Hölderlin sie auch nennt, will natürlich auch Hölderlin fördern und gewährt ihm genügend Freizeit, in der er an seinen Texten arbeiten kann, besonders am 'Hyperion'. Sie stellt Hölderlin in Aussicht, ihn mit Goethe, Herder, Wieland und anderen Persönlichkeiten bekannt zu machen.

Am 19. Januar 1795 schreibt Hölderlin an Neuffer: "Ich kam zu Herdern, und die Herzlichkeit, womit mir der edle Man begegnete, machte auf mich einen unvergeßlichen Eindruk. Seine Darstellungsart verläugnet sich auch in seinem Gespräche nicht. Doch glaubt' ich auch eine Simplizität an ihm zu bemerken, und eine Leichtigkeit, die man im Verlauf der Geschichte der Menschheit nicht vermuthen sollte, wie mich dünkt. Ich werde wohl noch öfter zu ihm kommen. Auch mit Göthen wurd' ich bekannt. Mit Herzpochen gieng ich über seine Schwelle. Das kannst Du Dir denken. Ich traf ihn zwar nicht zu Hauße; abernachher bei der Majorin. Ruhig, viel Majestät im Blike, u. auch Liebe, äußerst einfach im Gespräche, das aber doch hie und da mit einem bittern Hiebe auf die Thorheit um ihn, und eben so bittern Zuge im Gesichte - und dann wieder von einem Funken seines noch lange nicht erloschnen Genies gewürzt wird - so fand ich ihn. Man sagte sonst, er sei stolz; wenn man aber darunter das Niederdrükende, u. Zurükstoßende im Benehmen gegen unser Einen verstand, so log man. Man glaubt oft einen recht herzguten Vater vor sich zu haben. Noch gestern sprach ich ihn hier im Klubb [Goethe, Wieland, Herder]. (Gr. StAg, 6-1, S. 151)

Es klingt alles zu schön, um wahr zu sein. Die anfängliche Euphorie Hölderlins weicht ziemlich bald der Ernüchterung, als Hölderlin feststellen muss, dass auch das Leben außerhalb der Kirche voller Zwänge ist.

Im Schloss Waltershausen sieht sich Hölderlin mit Unsittlichkeit und Unmoral konfrontiert, allein schon durch das auffallend ungehorsame Verhalten seines Zöglings Fritz, auf den Hölderlin Tag und Nacht aufpassen muss und er deshalb seiner wohlverdienten Nachtruhe beraubt wird, damit Fritz sich nicht unsittlich benehme. Heinrich von Kalb warnt Hölderlin schon vor, dass Fritz onaniere und der vorherige Hofmeister bereits seine liebe Not hatte, Fritz teilweise mit Schlägen zum Gehorsam zu zwingen. Auch Hölderlin kann es Fritz nicht abgewöhnen, was Hölderlin zunehmend frustriert. Hölderlin beschreibt seine erfolglosen Erziehungsversuche im Sommer 1794 bereits als "Perlen vor die Schweine" und konstatiert, dass Fritz von Kalb keine Lehrer, sondern Ärzte bräuchte. Nach der Kündigung Hölderlins musste sich Fritz später tatsächlich einer ärztlichen Behandlung unterziehen, denn die Selbstbefriedigung galt im 18. Jahrhundert als gesundheitsschädlich, wenn nicht sogar als tödlich.

Langsam aber sicher erkennt Hölderlin auch, wie sehr die Herrschaften ihre Machtposition gegenüber ihren Bediensteten ausnutzen.
Hölderlin erfährt von Wilhelminens Problemen. Sie braucht einen Anwalt, um wenigstens einen Teil des Erbes ihres verstorbenen Mannes zu erstreiten, das ihr die Schwiegerfamilie verweigert. In Adolf Becks Abhandlung über die Gesellschafterin Charlottens ist darüber einiges nachzulesen.
Hölderlin schreibt seinem Freund Neuffer, dass Wilhelmine "eine schlechte Mutter" habe und "ein Schicksal". Sie tut ihm sehr leid. Wilhelminens Mutter, die aus einfachen Verhältnissen stammt, ist durch ihre dritte Ehe mit einem irischen Baron gesellschaftlich und finanziell aufgestiegen, könnte ihre Tochter finanziell unter die Arme greifen und mit einem reichen Mann erneut verheiraten. Sie überlässt jedoch ihre Tochter dem Schicksal und schickt Wilhelmine als Gouvernante zur Familie von Kalb, wohlwissend, dass Wilhelmine für ihren Lebensunterhalt selber sorgen und sich ihrem Brotgeber Heinrich von Kalb fügen muss. Da Wilhelminens Stiefvater irische Wurzeln hat, erklärt vielleicht, warum Wilhelmine neben Französisch auch sehr gut Englisch spricht.

Man kann nur erahnen, inwieweit Hölderlin tatsächlich miterlebt, wie sich eine so kluge und gebildete junge Frau wie Wilhelmine als Unterhalterin verdingen und neben Edda von Kalb vor allem den gelangweilten Schlossherrn bei Laune halten muss.
Dem arbeitslosen Major von Kalb macht dazu noch seine drohende Verarmung aufgrund zwielichtiger Geschäfte und Fehlinvestitionen zunehmend zu schaffen, ist er auch schon ein Gesprächsthema in der Meininger Gesellschaft. Von Kalb, der früher in Amerika unter Lafayette gekämpft hatte, kümmert sich jetzt nur noch um Heim und Familie und geht auch nur selten aus, wie Hölderlin schreibt. Hin und wieder lädt der Major jedoch Gäste wie der Herzog von Meiningen zum Mittagessen ins Schloss ein, um gesellschaftlich nicht ganz ins Abseits zu geraten und um im Hinblick auf seinen Ruf in der Gesellschaft den Schein zu wahren.

Umso bestürzter wäre Hölderlin wohl gewesen, wenn er in seiner Zeit in Jena noch mitbekommen hätte, dass Wilhelmine gar keine neue Stelle in Meiningen hatte, sondern schwanger war und untertauchen musste, um ihr uneheliches Kind im Verborgenen zur Welt zu bringen.

Hölderlin wusste wohl eher nicht, dass Wilhelmine ihr Kind bei den Von Kalbs in Weimar heimlich gebar und das Ehepaar das Kind als ihr eigenes ausgab, damit es ehelich getauft werden konnte und die Sittenwächter der Kirche keine unbequemen Fragen stellten. Johann Gottfried Herder war der Taufzeuge und Charlotte von Stein die Patin. Freiherr Heinrich von Kalb nahm Wilhelminens Mädchen also unter dem Namen Von Kalb in seinen Stammbaum auf, gerade weil er der leibliche Vater von Wilhelminens Tochter war und nicht der arglose Hölderlin.

Charlotte von Kalb war anfangs tolerant genug, das Versteckspiel ihres Mannes und seiner Geliebten mitzuspielen, vor allem aber auch, um in der streng gesitteten Weimarer Öffentlichkeit als auch daheim in Waltershausen/Meiningen kein großes Aufsehen zu erregen. Zudem wollte Charlotte nicht riskieren, dass sich ihr Ehemann von ihr trennt, wenn sie nicht mitspielt, weil er ihr sonst ihren Sohn Fritz entzogen hätte. Das hatte er ihr schon früher angedroht, als sie sich wegen Schiller scheiden lassen wollte, wie Charlotte in ihren Memoiren schreibt.
Desweiteren könnte Charlotte auch deshalb wenigstens einmal die offizielle Mutter eines der unehelichen Kinder ihres Mannes gespielt haben, weil ihr Gatte Heinrich von Kalb 1786 eine in Mannheim geborene Tochter Charlottens als sein Kind annahm, obwohl er das ganze Jahr beim Militär beschäftigt war und Charlotte allein mit Schiller in Mannheim ihre Liebesbeziehung genoss. Diese Tochter könnte durchaus Schillers Kind gewesen sein. Sie verstarb offiziell angeblich auch gleich nach der Geburt und könnte in Wahrheit vielleicht einer Amme anvertraut worden sein. Charlotte musste auf Geheiß ihres Mannes danach sofort zu ihrem Schwiegervater nach Kalbsrieth übersiedeln, was sie sehr bedauerte, liebte sie doch das gesellschaftliche und kulturelle Leben in Mannheim und das angenehm warme Klima.  

Für Wilhelmine und alle anderen Beteiligten war diese diskrete Vorgehensweise jedenfalls die beste und eine wirklich elegante Lösung... und das Ehepaar von Kalb war unter den Adligen damit keineswegs eine Ausnahme. Eine Hand wusch die andere.

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Das Foto zeigt das ehemalige Wohnhaus der Familie von Kalb in Weimar, der erste Wohnsitz Goethes. Goethe war vom 7. November 1775 bis zum 18. März 1776 der Hausgast Charlottens, als er nach Weimar gezogen war. 1804 war Freiherr Heinrich von Kalb pleite und verkaufte u.a. auch dieses Haus.

Schiller höchstpersönlich bezog zunächst mit seiner Ehefrau Charlotte von Lengefeld für einige Zeit dieses Haus, was seiner Frau aber nicht wirklich behagte, weil sie wusste, dass Charlotte von Kalb Schillers Ex-Geliebte war. Sie war bemüht, alle Spuren der Freifrau von Kalb zu entfernen.
Seit 1810 war das Haus die Gaststätte 'Hotel de Saxe' und wurde 1870 in 'Sächsischer Hof' umbenannt.

Das Ehepaar Von Kalb trennte sich 1802 endgültig. Charlotte ging mit Tochter Edda nach Berlin, wo Edda Hofdame am preußischen Hof wurde und ihre Mutter zu sich ins Schloss nahm. Die Söhne Fritz und August Wilhelm waren beim Militär. Heinrich von Kalb zog sich mit seiner Geliebten Anna Barbara Todt, die auch bei ihm als Köchin angestellt war, und den drei gemeinsamen Kindern auf sein Schloss Trabelsdorf zurück. Da sein Ruf ruiniert und seine Verhältnisse komplett zerrüttet waren, brauchte er seine drei unehelichen Kinder auch nicht mehr in der Meininger Öffentlichkeit zu verstecken. 1806 erschoss er sich im Gasthof 'Zum Goldenen Hahn' in München. August Wilhelm versuchte vergeblich das restliche Erbe seiner Eltern zu retten, erschoss sich 1825 auf der preußischen Festung. Die einzige Enkeltochter, Henriette Franziska, die von Fritz von Kalb stammt, starb 1870 kinderlos, sodass dieses Adelsgeschlecht letzten Endes ausstarb.

Doch zurück zu Hölderlins Zeit 1795 in Jena, noch immer mit der nervigen Familie Von Kalb im Schlepptau:
Hölderlin war schon über zwei Monate in Jena und klang in seinem Brief an Neuffer ganz und gar nicht begeistert, dass Charlotte von Kalb samt ihrem Gatten im neuen Jahr (Januar 1795) wieder längere Zeit in Weimar residieren wollte. Hölderlin, der sich noch immer mit dem Zögling Fritz herumschlagen musste, ärgerte sich über sich selbst, dass er sich vom Ehepaar von Kalb (dem "Major" und der "Majorin") hat breitschlagen lassen, Fritz noch zwei weitere Wochen auf Probe zu betreuen, obwohl Hölderlin im alten Jahr (1794) bereits entnervt gekündigt hatte.

"Ich schrieb Dir noch vor meiner Abreise von Waltershausen, wie ser ich durch mein Erziehersgeschäft in meiner Selbstbildung gestört würde. Ich litt mer, lieber Neuffer! als ich schreiben mochte. Ich sah, wie sich das Kind mit jedem Tage mer verdarb, und konnte nicht helfen, wahrscheinlich hätt' es auch ein vollkomnerer Erzieher nicht gekonnt. Wir kamen hieher, ich verläugnete beinahe meine Wünsche, den hiesigen Aufenthalt zu benüzen ganz, nur um das Äußerste an meinem Zöglinge zu versuchen; ich wagte meine Gesundheit durch fortgeseztes Nachtwachen, denn das machte sein Übel nötig, und ich wollte auch so den verlornen Tag zum Theil ersezen, oft schien es mir zu gelingen, aber es folgten nur traurigere Rezidive, und ich fieng auch an, auf eine gefährliche Art an meinem Kopfe zu leiden, durch das öftere Wachen, wohl auch durch den Verdruß. […] Schillers Umgang hielt mich auch noch empor." (Große Stuttgarter Ausgabe 6-1, S. 150)
Hölderlins Formulierung "an meinem Kopfe zu leiden" wurde von Kritikern immer wieder als Beginn der angeblichen Schizophrenie Hölderlins gewertet, dabei finde ich es absolut nachvollziehbar, dass Hölderlin durch seine gestörte Nachtruhe am Tage müde und abgeschlagen war und durch den ständigen Frust, Fritz von Kalb das Onanieren nicht abgewöhnen zu können, immer missmutiger und ungehaltener wurde, auch weil er sich nicht wie gewünscht auf seine Arbeit am 'Hyperion' konzentrieren konnte. Hölderlins Ausdrucksweise "am Kopfe leiden" ist lediglich eine altmodische Formulierung aus dem 18. Jahrhundert. Selbst Schiller schrieb in seinem Brief an seinen Freund Körner, dass etwas, was ihn geärgert hatte, seinen Kopf "zerstörte" oder "zerrüttete". "Die Zerstörung/Zerrüttung meines Kopfes", wie Schiller sich ausdrückte.
Wenn wir genervt sind, dann würden wir heutzutage an Schillers und Hölderlins Stelle sagen: Der Fritz von Kalb macht mich wahnsinnig!! Oder: Ich werd' hier noch verrückt!! Unsere Redewendungen im 21. Jahrhundert sind ja auch keine Indikation für eine Psychotherapie, weil sie natürlich nicht wörtlich zu nehmen sind.

Charlotte von Kalb wollte Hölderlin trotz seiner Kündigung nicht gehen lassen. Sie klammerte sich förmlich an ihn, was ihm äußerst unangenehm war. Für die kommenden drei Monate gab sie ihm genug Geld, wohl in der Hoffnung, Hölderlin möge sich weiterhin um Fritz kümmern. Heinrich von Kalb versuchte ebenfalls, Hölderlin zum Durchhalten zu bewegen, um Fritz so lange wie möglich (ursprünglich war ein halbes Jahr angedacht) in Jena zu betreuen, wogegen sich Hölderlin aber zunehmend sträubte.
Was Hölderlin wohl nicht ahnte, war, dass das Ehepaar von Kalb ihren nervigen Sohn Fritz zumindest so lange an Hölderlin abtreten wollte, bis Wilhelmine in ihrem Versteck oben in der Mansarde niedergekommen war. Charlotte hatte sich in dieser Zeit um Wichtigeres als ihren Fritz zu kümmern, und Heinrich von Kalb musste zeitweise auf Geschäftsreise. Freiherr von Kalb kehrte erst wieder zur Taufe seiner Tochter nach Weimar zurück. Da war Hölderlin bereits aus Jena abgereist und auf dem Weg zur Mutter nach Nürtingen.

Das Geschehen abSeptember 1794 - September 1796 in Waltershausen/Meiningen und Weimar/Jena im Überblick:

1. Wilhelmine Kirms musste etwa Mitte September 1794 mit einem Mädchen schwanger geworden sein, weil laut der Kirchenbücher im Sommer 1795, also im errechneten Zeitraum ihrer Niederkunft, nur Freiherr von Kalb (am 12. Juni 1795) Vater einer Tochter wurde und nicht Hölderlin. Der Zeitraum der Empfängnis lässt sich aus dem Datum des Sterberegisters der Hofkirche zu Meiningen und dem dort angegebenen Alter ihres an den Blattern verstorbenen Kleinkindes auf Mitte Oktober 1794 zurückrechnen.

Ende August bis etwa Anfang Oktober war Hölderlin mit Charlotte von Kalb und dem Zögling Fritz auf einem Kalbischen Gut im Steigerwald. Er war den ganzen September noch mit der Umarbeitung seines 'Hyperion'-Fragments beschäftigt, das er Schiller ab November in Jena persönlich zum Druck vorlegen wollte. "[...] meinem Roman, wovon Du die fünf ersten Briefe diesen Winter in der Thalia finden wirst. Ich bin nun mit dem ersten Theile beinahe ganz zu Ende. Fast keine Zeile blieb von meinen alten Papieren." (Große Stuttgarter Ausgabe, 6-1, S. 136f)
Im Steigerwald erwartete Hölderlin mit Sorge einen Brief von seinem lieben Freund Neuffer, dessen Verlobte Rosine Stäudlin todkrank war und vermutlich bereits im Sterben lag, weshalb Hölderlin Neuffer angeboten hatte, schnell zu ihm nach Hause zu laufen, falls dieser Hölderlins moralischen Unterstützung und Trost bedürfe.
Im Oktober zurück in Waltershausen schrieb Hölderlin an Neuffer: "Ich war Dir schon um einige Tagereisen näher, als gewönlich, auf einem Kalbischen Gute auf dem Staigerwalde, in der Gegend von Bamberg, u. erwartete da Deinen lezten Brief [...] da ich beinahe schon halbwegs [daheim] war, und mich die Natur mit ein paar rüstigen Beinen versehen hat." (Große Stuttgarter Ausgabe, 6-1, S. 135)

Freiherr von Kalb war mit Wilhelmine in Waltershausen geblieben und konnte sich mit ihr in Ruhe auf seine erweiterte Familienplanung konzentrieren. Wilhelmine war ja jemandem versprochen wie man Hölderlin gesagt hatte. Es ist sehr gut möglich, dass sich das Ehepaar von Kalb vorab sogar darauf verständigt hatte, was früher viele Adlige getan haben, um wegen der hohen Kindersterblichkeit wenigstens noch ein paar weitere Nachkommen mit Nebenfrauen für den Machterhalt zu zeugen und das Adelsgeschlecht nicht aussterben zu lassen. August der Starke soll sogar über 350 uneheliche Kinder gehabt haben.
Wie Hölderlin anfangs nach seiner Ankunft in Waltershausen in einem Brief nach Hause schrieb, kümmere sich der Major von Kalb, der früher in Amerika gekämpft hatte, jetzt nur noch um Heim und Familie und ginge auch nur selten aus. "Er liebt die Ruhe ser, verreist selten, und hat immer wenig Gesellschaft. »Ich habe mich lange genug unter Menschen, zu Land und zu Meer herumgetummelt, spricht er, jezt ist mir Weib und Kind, und Haus und Garten um so lieber.« Er war noch vor drei Jaren in französischen Diensten, und hat unter Lafayette den Amerikanischen Krieg mitgemacht." (Große Stuttgarter Ausgabe, 6-1, S. 102f)

2. Hölderlin war ab November mit seinem Zögling Fritz von Kalb Vollzeit in Jena, besuchte Vorlesungen an der Uni und arbeitete mit Schiller bereits eng zusammen, was Hölderlin außerordentlich gefiel. Am 26. Dezember 1794 schrieb Hölderlin seiner Mutter aus Jena: "Meine Herrschaft findet den Aufenthalt auf dem Lande jezt plözlich zu langweilig... " (Große Stuttgarter Ausgabe, 6-1, S. 143), und man wolle jetzt unbedingt in die Stadt ziehen.
Hölderlin schrieb im Januar seinem Freund Neuffer, dass er sich wundere, was der "Majorin" (Charlotte von Kalb) einfiele, weil sie plötzlich für ein halbes Jahr nach Weimar ziehen wolle. Dabei erfuhr Hölderlin nebenbei vom Ehepaar von Kalb, dass Wilhelmine seit Dezember in einer neuen Anstellung als Gouvernante in Meiningen wäre. Das entsprach aber nicht den Tatsachen. Adolf Beck konnte auch keine neue Familie in Meiningen ausfindig machen, die eine (heimlich) schwangere alleinstehende Frau eingestellt hätte, schon weil es die Sittengesetze gar nicht zuließen.
Diesbezüglich wurde Hölderlin also angelogen! Er machte sich über Wilhelmine keine weiteren Gedanken, schrieb im Januar 1795 nur, dass er Wilhelmine als eine Freundin nur ungerne verloren habe. So weit, so gut. Danach hatte Hölderlin Wilhelmine nie wieder erwähnt.

3. Im Dezember/Januar gingen Charlotte und ihr Mann Heinrich heimlich mit der schwangeren Wilhelmine nach Weimar in das Wohnhaus der Von Kalbs. Charlotte hatte Bedenken, wie Hölderlin wohl mit Fritz allein in Jena auskäme und wollte ihren Sohn sehen. Daher schrieb sie Schiller, dass sie nach Weimar käme und weil sie nicht das Haus verlassen könne, tue sie mal so, als wäre sie krank. Sie hoffte, Schiller würde mit Fritz und Hölderlin zu ihr nach Weimar kommen. Schiller dürfte sich wohl darüber gewundert haben. Jedenfalls kam er ihrer Bitte nicht nach.

Hölderlin schrieb seiner Mutter aus Jena, dass die 'Majorin' nach Jena gekommen sei, um ihn und ihren Sohn Fritz abzuholen. Hölderlin sagte Charlotte von Kalb, dass er sich nicht mehr um Fritz kümmern wolle und könne, und kündigte für Ende Dezember 1794 seine Stelle als Hofmeister, allerdings dann mit Verlängerung bis in den Januar 1795. Schiller hatte im Sinne der Charlotte von Kalb, die Hölderlin nicht so plötzlich gehen lassen wollte, Hölderlin noch vorgeschlagen, es mit Fritz noch bis Ostern zu versuchen (weshalb Charlotte Hölderlin ja auch den dreimonatigen Vorschuss gezahlt hatte). Hölderlin schreibt am 26. Januar 1795 aus Jena an Hegel: "Ich lies mich durch sie und Schillern überreden, den Versuch noch einmal zu machen, konnte aber den Spaß nicht länger als 14 Tage ertragen, weil es unter anderem auch mich beinahe ganz die nächtliche Ruhe kostete, und kehrte nun in vollem Frieden nach Jena zurük, in eine Unabhängigkeit, die ich im Grunde jezt im Leben zum erstenmale genieße, und die hoffentlich nicht unfruchtbar seyn soll. Meine productive Tätigkeit ist izt beinahe ganz auf die Umbildung der Materialien von meinem Romane gerichtet. Das Fragment in der Thalia ist eine dieser rohen Massen. Ich denke bis Ostern damit fertig zu seyn." (Große Stuttgarter Ausgabe, 6-1, S. 154)
An den Bruder Karl schrieb Hölderlin im April 1795: "Mein Werkchen, von dem ich schon schrieb, hat Cotta in Tübingen, auf Schillers Veranlassung, in Verlag genommen; [...] Wahrscheinlich laß' ich mich nächsten Herbst, wenn ich [in Jena] bleibe, hier examiniren. Das ist die einzige Bedingung, die mir die Erlaubnis giebt, Vorlesungen zu halten. (Große Stuttgarter Ausgabe, 6-1, S. 164f)
Hölderlin hatte sich in Jena also voll und ganz mit Schiller, aber auch mit Unterstützung Goethes und Niethammers in seine Arbeit gestürzt, was er genoss.
Das Ehepaar von Kalb hatte in Weimar dann auch den Entschluss gefasst, ihren Sohn Fritz in ärztliche Betreuung zu geben, damit dessen krankmachendes Laster (Onanieren) behandelt werden könne.

4. Hölderlin wusste nicht, dass Wilhelmine gar keine neue Stelle hatte, sondern als schwangere alleinstehende Frau aufgrund der strengen Sittenlage unter Verschluss gehalten werden musste, weil Heinrich von Kalb seine uneheliche Tochter mit Wilhelmine Kirms offiziell nur ehelich unter seinem Familiennamen Von Kalb gebären und taufen lassen konnte, um der Kirchenstrafe zu entgehen. Charlotte von Kalb musste somit die offizielle Mutter spielen und konnte sich deshalb auch nicht ständig in der Öffentlichkeit in Weimar und Jena zeigen, weil man sonst gesehen hätte, dass Charlotte von Kalb gar nicht schwanger war und man sich dann natürlich gefragt hätte, woher bei den Von Kalbs plötzlich ein Säugling kommt.

5. Am 12. Juni 1795 wurden im offiziellen Taufbucheintrag des Kirchenregisters zu Weimar Heinrich und Charlotte von Kalb als Eltern der Tocher Eleonore Susanne Amalie Henriette von Kalb genannt, die sie wenige Wochen nach der Geburt im Juli offiziell als verstorben eintragen ließen. Die Tochter war aber nur auf dem Papier tot. Es gab sozusagen einen fliegenden Wechsel unter der Hand. Alle Spuren mussten verwischt werden, damit man keine Verbindung zu Wilhelmine herstellen konnte.
Aus diesem Grund gingen die Von Kalbs auch in das entferntere Weimar, wo Charlotte von Kalb in der Öffentlichkeit nicht ganz so bekannt war wie daheim in Waltershausen/Meiningen, wo man sie seit ihrer Geburt kannte.
Wilhelmine konnte daher dann völlig unbehelligt ihre Tochter im Juli 1795 zurück nach Waltershausen/Meiningen mitnehmen und nannte sie fortan Louise Agnese. Sie lebte mit ihrer Tochter wieder im Schloss Waltershausen zusammen mit Freiherr Heinrich von Kalb, der das größte Interesse gehabt haben dürfte, dem abwesenden Hölderlin die Vaterschaft in die Schuhe zu schieben, weil sich die Waltershäuser und Meininger sowie die restliche Dienerschaft natürlich über das plötzliche Erscheinen eines Säuglings wunderten.

6. In Meiningen grassierten 1796 die Blattern (Pocken). Am 20. September 1796 verstarb Wilhelminens Tochter wie viele andere Kinder tatsächlich an dieser Krankheit. Das Mädchen war dann unter dem Namen Louise Agnese Kirms im Sterberegister der Hofkirche zu Meiningen (siehe Foto unten) mit Wilhelmine Marianne Kirms als Mutter eingetragen und wurde von einer Amme zu Grabe getragen und anonym beerdigt.
Der Vater ist im Sterberegister nicht genannt. Laut Sterberegister war Louise Agnese 1 Jahr, 9 Wochen und 5 Tage alt (mit der Anzahl der Wochen und Tage konnte Wilhelmine bei der Altersangabe ihrer verstorbenen Tochter im Nachhinein rückwirkend ein wenig tricksen).
Vom 20. September 1796 zurückgerechnet, gebar Wilhelmine ihre Tochter Louise Mitte Juli 1795 an einem unbekannten Ort. Anfang Juli 1795 verstarb angeblich die Tochter Eleonore des Ehepaares von Kalb in Weimar. In dieser Übergangszeit musste der Identitätenwechsel, d.h. Namenswechsel (Eleonore von Kalb -> Louise Agnese Kirms) vorbereitet und durchgeführt werden, damit eine heimliche Übergabe ein und desselben Kindes möglich war.
Der unkonventionelle Herder, der Generalsuperintendent der Weimarer Stadtkirche St. Peter und Paul ("Herderkirche"), Taufzeuge und vertrauter Freund Charlottens von Kalb war, konnte dem Ehepaar von Kalb beim entsprechenden Kirchenbucheintrag dahingehend behilflich sein. Herder schien genau der richtige Ansprechpartner für solche heimlichen Unternehmungen gewesen zu sein. Herders Nachfahrin sagte in der SWR-Sendung 'Ich trage einen großen Namen', dass sich Herder manchmal den Unmut der Kirche zugezogen hatte, wenn er unkonventionelle Dinge tat oder sagte, wie z.B. "die Menschen bräuchten nicht unbedingt den Gottesdienst zu besuchen. Sie könnten Gott auch draußen in der Natur nahe sein oder an welchem Ort auch immer."
Schiller war nicht immer gut auf Goethe und Herder zu sprechen. Bereits im September 1789 beschrieb Schiller seinem Freund Körner, wie unmöglich sich Herder bei seiner Predigt in Weimar verhalten habe, denn er predigte über sich selbst. Ein unverzeihlicher Fehler, eine "Komödie", die die Gemeinde und alle Gottesdienstbesucher empörte. Herders Feinde frohlockten, Herders Freunde waren vor Entsetzen sprachlos.
Da sich Herder also manchmal im Gottesdienst wie auch bei Hofe ziemlich danebenbenahm (bei Hofe, der ihn unterstützte, lästerte er offen über wichtige Personen, wie Schiller schrieb), hatte das Ehepaar von Kalb wohl auch den richtigen Pfarrer gefunden, der keine Scheu hatte, ein uneheliches Kind einer Mätresse als eheliches, adliges Kind zu taufen, um den Herrschaften von Kalb die öffentliche Schande und Kirchenstrafe zu ersparen.

7. Der Hölderlinforscher Adolf Beck konnte daher trotz langem Suchen keinen offiziellen Geburteneintrag der Tochter Wilhelminens finden, weil Louise Agnese unter dem Namen Eleonore von Kalb zur Welt kam und die ganze Zeit mit ihrer Mutter bei den Von Kalbs auch gelebt hatte - wie später die drei unehelichen Kinder der Bamberger Lehrerstochter Anna Barbara Todt, die bei Freiherr von Kalb im Schloss Waltershausen als Köchin angestellt war.
Charlotte von Kalb blieb die meiste Zeit weiterhin bei ihrem Sohn Fritz in Weimar, wo sie 1796 den jungen Dichter Jean Paul Richter zu sich einlud, ihn wie Hölderlin förderte und mit ihm im Laufe der Zeit eine Affäre begann. Wie zuvor bei Schiller machte sie Jean Paul auch einen Heiratsantrag. Wilhelmine verließ nach dem Tod ihrer Tochter Schloss Waltershausen, heiratete wieder und bekam weitere Kinder.
Heinrich von Kalb schwängerte im Frühsommer 1799 seine nächste Geliebte, Anna Barbara Todt, die im Februar 1800 einen Sohn zur Welt brachte. Nachdem sich der Major, Freiherr Heinrich von Kalb, 1806 aufgrund der "kompletten Zerrüttung seiner Verhältnisse" erschossen hatte, heiratete Barbara Todt einen Amtmann.
Charlotte von Kalb nahm 1812 Barbara Todts Tochter (geb. 1801), die wie Wilhelminens Tochter ebenfalls Luise genannt wurde, als Pflegekind zu sich nach Berlin.

8. Charlottens Liebhaber und Vertrauter Jean Paul Richter schrieb, dass der eheliche Beischlaf des Ehepaares von Kalb nach der schweren Geburt des Sohnes August Wilhelm 1793 aufgehoben war. Vermutlich konnte Charlotte keine Kinder mehr bekommen und fühlte sich ihrem Ehemann dahingehend auch nicht mehr verpflichtet. Deshalb hatte sich Heinrich von Kalb spätestens dann mit Wissen seiner Frau Charlotte zuhause im Schloss seine Nebenfrauen genommen. Eleonore von Kalb kann also nicht die leibliche Tochter Charlottens, sondern nur die uneheliche Tochter Wilhelminens gewesen sein. Da Freiherr Heinrich von Kalb das Mädchen in seinen Stammbaum aufgenommen hatte, kann auch nur er als leiblicher Vater in Frage kommen - und nicht der ahnungslose Hölderlin.

Mit dieser Erkenntnis ergibt die gesamte Korrespondenz aller Beteiligten und Zeitzeugen für mich jetzt einen Sinn, z.B. dass Hölderlin in seinem Brief auf Neuffers Frage, ob sich Hölderlin denn auch bald verheirate, ganz unbedarft antwortete, dass Wilhelmine schon "jemandem versprochen" sei und es niemanden im Moment in seinem Umfeld gäbe. Hölderlin muss wohl der Meinung gewesen sein, dass Wilhelmine verlobt war. Warum hätte er es auch anzweifeln sollen?
Autoren schreiben bis heute, dass Wilhelmine doch gar keinen Verlobten hatte. Ja, das wissen wir heute nach vielen Forschungen, aber für Hölderlin war diese Aussage damals völlig normal. Wir wissen heute, dass sie natürlich keinen Verlobten hatte, denn sie war die inoffizielle Nebenfrau des Freiherrn von Kalb, was Hölderlin und viele andere aber nicht wussten. So genau hatte man Hölderlin nicht auf die Nase gebunden, wem Wilhelmine verpflichtet war. Hölderlin hatte man generell über Wilhelminens Zustand nicht informiert - warum auch? Er persönlich hatte mit dem ganzen Schwangerschaftsdrama absolut nichts zu tun.

9. Freiherr von Kalb musste mithilfe seiner Ehefrau Charlotte einige Anstrengungen unternehmen und zusehen, dass er sein uneheliches Kind diskret und ohne großes Aufsehen in seine Familie aufnehmen konnte. Wahrscheinlich waren außer der Hebamme vielleicht nur ein oder zwei Kammerfrauen notgedrungen eingeweiht sowie vertraute Freunde wie Goethe, Herder und Charlotte von Stein, die bei Charlotte von Kalb gern gesehene Gäste waren und die Hölderlin im Hause Von Kalb in Weimar einmal kennenlernte. Hölderlin war von Herder sehr beeindruckt und öfters bei ihm zu Gast.
Gottfried Herder war bei der Kalbischen Taufe im Juni 1795 der Taufzeuge und Charlotte von Stein die Patin der Tochter Heinrichs von Kalb, wie Emil Palleske in seinen urkundlichen Abschriften 1879 veröffentlichte.
Goethe, der früher eine Liebesbeziehung zu Charlotte von Stein hatte, lebte mit Christiane Vulpius und den unehelichen Kindern lange Zeit in wilder Ehe, sodass Goethe und Charlotte von Stein Verständnis für solche Verhältnisse hatten und Charlotte von Kalb halfen, diese pikante Angelegenheit diskret über die Bühne zu bringen.

Je weniger Leute aber von dem unehelichen Kind wussten, desto besser.

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Am Ende der Gasse sieht man das rosa-gelbe Wohnhaus Herders hinter der Kirche verschwinden. Die graue Mauer rechts ist die 'Herderkirche' (St. Peter & Paul), wo Herder begraben liegt.
Charlotte von Kalb wollte Hölderlin nicht gehen lassen, daher bot auch Herder Hölderlin Unterstützung an, d.h. eine Stelle als Hauslehrer im Hause Herder, was Hölderlin aber ebenfalls ablehnte.
Hölderlin wollte Fritz von Kalb nicht mehr betreuen, daher zahlte er den Vorschuss an Charlotte von Kalb zurück. Er wollte auch nicht ständig nach Weimar kommen, weil er seine Vorlesungen bei Fichte nicht verpassen und seiner Wege gehen wollte.
Die Herderkirche und Herders Wohnhaus sind nur wenige Schritte vom Wohnhaus Charlottens entfernt. Weimar und Charlottens Umfeld waren Hölderlin zu eng. Er wollte sich von ihr unabhängig machen, wie er explizit in seinem Brief an seine Mutter schrieb, und nicht ihr Schoßhündchen spielen. Die Tatsache, dass der Major von Kalb eine Beziehung mit der jungen Wilhelmine hatte, dürfte Charlotte dazu bewogen haben, sich ebenfalls einen jungen Liebhaber zu gönnen. Da wäre ihr Hölderlin gerade willkommen gewesen.

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Das Foto zeigt die Schlosskirche am Marktplatz.in Meiningen.
Da Freiherr von Kalb für seine Affären bekannt war, sahen die Meininger es wohl als ein offenes Geheimnis an, dass Wilhelminens Tochter das uneheliche Kind des arbeitslosen Majors von Kalb war. Nur hatte sich wohl keiner getraut, dies auszusprechen, auch nicht hinter vorgehaltener Hand. Lieber hatte man Hölderlin als Sündenbock benutzt, um Charlotte weitere öffentliche Schmach zu ersparen.
Charlotte von Kalb könnte aus Enttäuschung über Hölderlins Weggang aus Jena dieses Gerücht noch befeuert haben - schlimmer noch, sie war ungehalten, als sie erfuhr, dass Hölderlin in Frankfurt mit Susette Gontard eine Liebesbeziehung hatte und Charlotte auch diesmal wieder von einem Mann verschmäht wurde. Charlotte schlug am Ende ihrer Ehe wild um sich, sodass sogar ihre Familie sie entmündigen lassen wollte.

Als Hölderlin also in den ersten Monaten des Jahres 1795 in Jena war und zeitweise mit seinem Freund Isaac von Sinclair in einer Gartenlaube hauste, um Geld zu sparen, hatte sich Charlotte bei Schiller beschwert, dass Hölderlin nicht sehr zugänglich sei. Schiller hatte daraufhin wohl versucht, Hölderlin klarzumachen, wie die Dinge laufen, wenn sich ein brotloser Künstler von einer adligen, einflussreichen Dame fördern lässt, um Karriere zu machen.
Als Hölderlin begriff, dass er sich von Charlotte von Kalb aushalten lassen solle, wie das früher Schiller und später Jean Paul getan hatten, schrieb Hölderlin seiner Mutter nach Hause, sie möge ihm einen bestimmten Geldbetrag und noch etwas mehr für den Eigenbedarf schicken, weil er in Meiningen (gemeint ist Von Kalb in Waltershausen) "einen kleinen Posten zu begleichen" habe.
Da Hölderlin eine gute Mutter hatte, bekam er das Geld, um Charlotte von Kalb das für die besagten drei Monate vorgestreckte Geld zurückzuzahlen und sich so wieder unabhängig zu machen. Als das Geld Ende Mai immer knapper wurde und Hölderlin in Jena keine neue sichere Einkommensquelle hatte, musste er letztlich wohl oder übel Jena verlassen und erstmal wieder nach Hause zur Mutter gehen. Das tat er mit "zerrissenen Gefühlen", also mit einem lachenden und einem weinenden Auge, weil er sich ja gerne weiterhin im Kreise Schillers und der anderen klugen Köpfe einen Namen gemacht hätte, aber natürlich ohne faule Kompromisse und die ständige Einmischung der dominanten Majorin von Kalb.
Charlotte dürfte es daher ganz und gar nicht gefallen haben, dass sich Hölderlin quasi über Nacht sang- und klanglos aus dem Staub gemacht hatte. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Schiller von da an erstmal nicht mehr auf Hölderlins Briefe geantwortet bzw. Ausreden hatte, warum Hölderlins Gedichte nicht mehr in Schillers Musenalmanach erschienen. Angeblich habe Hölderlin seine Gedichte für den Druck zu spät eingereicht, manchmal waren seine Gedichte ohne Nennung von Gründen einfach ignoriert worden, usw. ... Vielleicht wollte Charlotte Hölderlin am langen Arm verhungern lassen, ihm seine unterlegene Position bewusst machen, um ihn weichzukochen, damit er am Ende wieder zu ihr zurückkommt.

ABER: Hölderlin als Mann von Grundsätzen wäre nicht Hölderlin, wenn er sich davon hätte verbiegen lassen. An seiner Stelle hätte ich (und habe bereits wie auch andere Familienmitglieder) genauso gehandelt. Für einen zweifelhaften Ruhm verkaufen wir uns nicht.

Ab 1800 bis etwa 1801, als Charlottens Liebhaber Jean Paul eine andere heiratete und Heinrich von Kalbs Geliebte Barbara Todt den ersten gemeinsamen Sohn zur Welt brachte, war Charlotte am Boden zerstört. Für sie waren diese unehelichen Kinder eine "öffentliche Beschämung und Qual", wie Ursula Naumann in ihrem Buch über Charlotte von Kalb beschreibt, genauso wie die drohende Verarmung der Familie insgesamt. Rastlos reiste Charlotte laut Adolf Beck umher, u.a. nach Heilbronn, Heidelberg, Mannheim, Homburg, freundete sich mit Sinclair an, wandelte auf Hölderlins Spuren, sodass Susette Gontard eifersüchtig wurde. Charlotte wollte den Kontakt zu Hölderlin wieder auffrischen. Sie hatte 'Hyperion' mit Begeisterung gelesen und wollte unbedingt mit ihm über sein Buch sprechen. Hölderlin hatte aber nicht mehr auf Charlotte reagiert, liebte er doch Susette, hatte andere Pläne und ging Anfang 1801 als Hauslehrer nach Hauptwil in die Schweiz.

22. Mai 1795 - Hölderlin bewirbt sich von Jena aus auf neue Stellen Charlotte von Kalb machte Hölderlin mit Goethe und Herder bekannt und wollte, dass Hölderlin regelmäßig zu ihr nach Weimar käme, was Hölderlin ablehnte, wollte er doch seine Seminare und Vorlesungen bei Fichte nicht ständig unterbrechen. Auch hatte Hölderlin seiner Mutter versprochen, dass er sich in Zukunft selbst um sein Einkommen kümmern und ihr nicht mehr auf der Tasche liegen wolle. Hölderlin wollte ggfs. auch Vorlesungen an der Uni halten, dazu hätte er aber erst selbst einen Abschluss gebraucht. Andere Dozenten hatten für ihre Tätigkeit als Seminarleiter und Professor ebenfalls nicht unbedingt eine Vergütung erhalten, sodass die finanzielle Situation generell schwierig war.
An der Uni erfuhr Hölderlin von einem Studenten, dass ein Frankfurter einen Hauslehrer für seinen Sohn suche. Hölderlin schreibt am 22. Mai 1795 seiner Mutter, dass ihm durch Empfehlung eines Jenaer Studenten eine Hofmeisterstelle in Frankfurt bzw. Offenbach angeboten wurde (Große Stuttgarter Ausgabe, 6-1, S. 173). Eine weitere Stelle in Kopenhagen fasste Hölderlin ebenso ins Auge wie sich als Gesellschafter zeitweise zu verdingen. Auch an Neuffer schrieb Hölderlin, dass er Jena verlassen wolle, er könne ja zu einem späteren Zeitpunkt wiederkehren. Da das Geld, das die Mutter Hölderlin geschickt hatte, langsam aber sicher zur Neige ging, auch weil Hölderlin zuvor noch eine Fußreise nach Dessau, Halle/Saale und Leipzig unternommen hatte, bewarb sich Hölderlin schließlich auch bei Gontards, d.h. auf seiner Heimreise nach Nürtingen hatte sich Hölderlin mit Dr. Ebel in Heidelberg getroffen, ein guter Bekannter der Gontards, der ihn empfahl. Cotta in Tübingen sollte Hölderlin noch bis September Geld für ein unbedeutendes Manuskript auszahlen, wodurch Hölderlin sich noch hätte versorgen können. Allerdings waren solche Honorare eben nur ein Tropfen auf den heißen Stein und keine Garantie für ein regelmäßiges Einkommen.
Hölderlin hatte Jena nicht grundlos und überstürzt verlassen wie Kritiker meinen, sondern musste erst einmal nach Hause gehen, weil er in Jena keine sichere Einkommensquelle mehr hatte und Gontards sich mit ihrer Zusage lange Zeit ließen.

Sobald Hölderlin wieder zu Hause war, bereute er gleich darauf seinen Entschluss, Jena verlassen zu haben. Er schrieb, dass es die dümmste Idee gewesen wäre, wieder heim ins Land zu kommen. Die Mutter bemerkte Hölderlins Nervosität und Unmut. Er fing an, von morgens bis abends wie besessen zu dichten, was die Mutter natürlich nicht verstand, glaubte sie doch, dass Hölderlin jetzt die Kirchenlaufbahn einschlage. Sie hatte ihm erneut zwei offene Vikarstellen in nahegelegenen Pfarreien empfohlen.
Mit der Kirche im Nacken saß Hölderlin auf glühenden Kohlen, weil er schnellstens neue Gedichte brauchte, um sie Schiller zur Veröffentlichung zu schicken. Er wollte unter keinen Umständen den beruflichen Kontakt über die Entfernung abbrechen lassen und schon gar nicht Pfarrer werden, sodass er wieder Zeit gewinnen musste, indem er der Mutter sagte, er plane noch eine Literaturreise nach Italien, hätte viele Ideen für Gedichte und sich erneut als Hauslehrer bei der Bankiersfamilie Gontard in Frankfurt beworben.
Familie Gontard ließ sich also mit der Zusage einige Monate Zeit, und daher fiel Hölderlin ein Stein vom Herzen, als er endlich seine neue Stelle in Frankfurt antreten konnte. Er hatte sich sozusagen in die Arme Susettens gerettet, wie Susette in einem ihrer Briefe richtig erkannte.

10. Januar 1796 - Hölderlin tritt seine Hofmeisterstelle in Frankfurt an Hölderlin tritt seine neue Hauslehrerstelle bei Bankier Jakob Gontard in Frankfurt an und ist von dessen liebreizenden Ehefrau Susette sofort fasziniert. Mit dem Sohn Susettens, seinem Zögling Henry Gontard, versteht sich Hölderlin auf Anhieb ausgezeichnet.
Im Mai 1796 begibt sich Familie Gontard in ihr Sommerdomizil, ein Landhaus östlich der Stadt gelegen. Hölderlin und Susette genießen die Sommerfrische und "ungestörte Stunden, in denen beide im himmlischen Frieden nebeneinander leben". Zu diesem Zeitpunkt waren sie schon längst ineinander verliebt.
Als am 2. Juli die Rhein-Mosel-Armee in Württemberg einfällt, macht sich Hölderlin um seine Familie in Nürtingen natürlich große Sorgen. Am 10. Juli müssen Susette und ihre vier Kinder mit Hölderlin und der Gouvernante Marie Rätzer Frankfurt verlassen, weil auch dort die Belagerung droht. Bankier Gontard bleibt in Frankfurt. Susette will zunächst zu ihren Eltern nach Hamburg gehen. In Kassel entscheidet sie sich plötzlich um und alle gehen nach Bad Driburg, wo sie bei einem Freund des Hauses Gontard wohnen können, der ein großes Anwesen hat. Man vermutet, dass Susette die Chance ergriffen hatte, mit Hölderlin noch ungestörter zu sein. Dort kommt Hölderlin auch in den Genuss der Mineralwasserquellen.

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Zwischen Kassel und Bad Driburg
Hölderlin schreibt über seine Reiseeindrücke im Brief, dass er "wilde schöne Landschaften" gesehen habe, sogar den Brocken aus der Ferne.

In Bad Driburg genießen Hölderlin und Susette lange Spaziergänge und intime Gespräche, sitzen bis tief in die Nacht beim Wein zusammen. Spätestens dann hatten sie die Gelegenheit, sich auch körperlich näherzukommen. Die Beziehung zu Susette war für Hölderlin etwas ganz Besonderes, geradezu etwas Göttliches, und entwickelte sich durch das tiefe und innige Gefühl der Liebe, die Hölderlin zuvor nur in seinen Träumen, wie er schrieb, aber noch nie mit einer Frau aus Fleisch und Blut erlebt hatte und bis zu seinem Tod auch nicht mehr erlebte.

11. August 1796Ankunft in Bad Driburg. Der Aufenthalt dauert bis weit in den September hinein. Ende September traf die Gesellschaft wieder in Frankfurt ein.

Marie Rätzer, die Gouvernante der Töchter Susettens, bleibt nicht verborgen, dass Susette und Hölderlin oft beisammen sitzen. Was sie nicht weiß, ist, dass Hölderlin mit Susette auch am 'Hyperion' arbeitet. Susette ist ihm eine gute Ratgeberin, wie die Geschichte erzählt werden soll. Sie überlegen, ob Hölderlin die 'Diotima' sterben lassen soll oder nicht. Letztlich entscheidet sich Hölderlin aus dramaturgischen Gründen doch für den Tod 'Diotimas' und bittet Susette deshalb um Verzeihung. Nachdem 'Hyperion' 1797 gedruckt war, schenkte Hölderlin Susette ein Exemplar beider Teile des 'Hyperion' mit der Widmung "Wem sonst als Dir".

Zurück in Frankfurt beobachtet Marie Rätzer im Hause Gontard Hölderlin und Susette weiterhin neugierig und erzählt alles brühwarm weiter. Sie mag einen gewissen Anteil daran haben, dass Bankier Gontard nach fast zwei Jahren Wind von der heimlichen Liebesbeziehung seiner Frau Susette mit Hölderlin bekam. 
Hölderlin schreibt in einem Brief, dass die Frankfurter Gesellschaft, die reichen, satten Bankiers und Geschäftsleute unangenehme, respektlose und freudlose Zeitgenossen seien. Sie behandelten Hölderlin nicht wie einen Gelehrten, sondern wie einen Dienstboten. Selbst Hölderlins zweiter Arbeitgeber, Bankier Jakob Gontard persönlich, nannte Hölderlin im Beisein Susettens einen "Domestiken", was das Fass zum Überlaufen brachte. Hölderlin durfte z.B. nie mit den Herrschaften und deren Gäste an der Tafel speisen, sondern musste in der Gesindeküche sein Abendbrot einnehmen, was er nicht tat, sondern sich eine Kleinigkeit auf sein Zimmer bringen ließ.
Die Frankfurter Kaufleute im Besonderen bezeichnete Hölderlin sogar als bösartig. An wen er da wohl dachte? Hölderlin schien den Meininger Kaufmann Ernst Schwendler jedenfalls auch nicht besonders leiden zu können, als er Schwendler 1797 in Frankfurt bei einem Konzert antraf und Schwendler ihn in ein langes Gespräch verwickelte. Mag auch sein, dass Schwendler lästerte und Charlotte von Kalb erzählt hatte, dass sich Hölderlin mit der Frau seines neuen Arbeitgebers, Susette Gontard, viel zu gut verstünde. Ein Grund mehr, dass Charlotte von Kalb in ihrer gekränkten Eitelkeit auf Hölderlin erst recht wütend gewesen sein könnte, weil Charlotte bei Hölderlin zuvor nicht landen konnte.

Hölderlin hatte sich in seiner Zeit in Frankfurt immer wieder an Schiller und andere gewandt und spielte mit dem Gedanken, wieder nach Weimar und Jena zurückzugehen. Susette wurde auf Charlotte von Kalb eifersüchtig, als Hölderlin ihr erzählte, wie es ihm mit der Majorin in seiner Zeit als Hofmeister in Jena erging. Susette sagte, das alles käme nur davon, weil "Weimar eine halbe Tagesreise von Jena entfernt" sei - ca. 4 Stunden, also zur damaligen Zeit nur einen Steinwurf. Wenn Hölderlin Jena damals nicht verlassen hätte, hätte er ständig springen müssen, wenn Charlotte es befiehlt.
Susette, die in der Gesellschaft als gutaussehend galt und eine geradezu "strahlende Erscheinung" gewesen sein soll, hatte einen besonderen Verehrer, einen der vielen Kaufmänner, der oft bei Gontards eingeladen war. Sie versicherte Hölderlin, dass dieser Verehrer "nur ein Freund" sei. Mag sein, dass es sich genau um diesen Ernst Schwendler handelte, der Hölderlin seine Liebe zu Susette nicht gönnte und Hölderlin gehässigerweise deshalb noch eine Affäre mit Wilhelmine Kirms andichten wollte.

Hölderlins Zögling Henry Gontard war derjenige, der Hölderlin liebevoll "mein Holder" nannte und ihm schriftlich mitteilte, dass er es zutiefst bedauere, dass Hölderlin ihn nicht mehr unterrichten würde, nachdem die Beziehung zwischen Hölderlin und Susette nach zwei Jahren aufgeflogen war und Bankier Gontard seiner Frau Susette befahl, Hölderlin rauszuwerfen. Das hatte sowohl Susette, die von Natur aus sensibel und ein wenig trübsinnig und in ihrer Vernunftehe natürlich sehr unglücklich war, als auch Hölderlin sehr geschmerzt. Susette schreibt, dass sie "wohl oft bittre, bittre Tränen" weine, "aber eben diese Tränen sind es", die sie erhalten und trösten.
Hölderlin und Susette wussten beide schon von Beginn an, als sie sich verliebten und alle Grenzen überschritten, dass ihre Liebe keine gemeinsame Zukunft haben würde. Hölderlin wünschte sich in den "seeligen Stunden unserer ersten ganz neuen Liebe", wie Susette diese Annäherung beschrieb, dass dieses Glück doch wenigstens ein halbes Jahr lang anhielte.

Hölderlin blieb zunächst in der Nähe Susettens, sodass sie sich zu bestimmten Zeiten, die aber eher selten waren, auch mal kurz sehen konnten. Jakob Gontard verbot seinem Sohn Henry den Kontakt zu Hölderlin, doch Susette blieb mit Hölderlin heimlich per Brief in Kontakt, immer in der Angst, entdeckt zu werden, sodass sogar Henry manchmal trotzdem den heimlichen Briefboten spielte:

"So wie ich dich liebe, wird dich nichts mehr lieben!" ~ Susette an Hölderlin
"Weil ich dich liebhabe und weil ich so lange schwieg..." ~ Hölderlin an Susette

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Von Frankfurt am Main nach Bad Homburg - 1798 bis 1800Hölderlin hatte seine bestimmten Orte um Homburg herum, von wo aus er Frankfurt sehen konnte.
Mitte September 2020 wurde an Hölderlin mit einem Street Art-Projekt erinnert. In der Fußgängerzone lag eine Zeichnung Hölderlins auf dem Boden, die vom markierten Fotopunkt aus betrachtet dreidimensional erschien: Hölderlin saß auf einem Schemel und schnürte sich seine Wanderschuhe zu, eine rote Rose im Gepäck, auf dem Weg, seine geliebte Susette in Frankfurt heimlich zu treffen.
Bad Homburg hat einen 22 km langen 'Hölderlin-Pfad' ausgewiesen, der in der Dorotheenstraße 34, wo Hölderlin einst wohnte, beginnt und in Frankfurt am Goethe-Haus endet.

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15. Januar 1801Hölderlin trat eine Hauslehrerstelle beim Textilfabrikanten Anton von Gonzenbach in Hauptwil in der Schweiz an. Er sollte die beiden jüngsten Töchter unterrichten, die fast schon 14 und 15 Jahre alt waren. Desweiteren war geplant, dass Hölderlin noch zwei Neffen Gonzenbachs unterrichten sollte, aber das hatte sich zerschlagen, sodass Gonzenbach mit Bedauern Hölderlin Mitte April entlassen musste.
Hölderlin schreibt, dass es in Hauptwil sehr ruhig sei, also kann er die Zeit gut nutzen, um nicht nur Geld zu verdienen, sondern auch Oden, Elegien und Gesänge zu schreiben. In dieser kurzen Zeit ist Hölderlin unglaublich produktiv, und da er ja auch noch in andere Länder wie Frankreich und Italien reisen wollte, kam ihm wohl der Abschied aus der Einöde ganz gelegen.

Hölderlin war in Konstanz über die Grenze in die Schweiz eingereist, auf der Heimreise mit einem Ruderboot über den Bodensee nach Lindau gefahren und dann wieder zurück nach Stuttgart zu seinen Freunden gewandert. Hölderlin hatte sich mit der Familie Gonzenbach sehr gut verstanden, hatte natürlich aber auch seine Freunde vermisst.

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Atlantikküste nahe BordeauxHölderlins Freund Friedrich von Matthisson dichtete folgenden Text, der  unter Beethoven vertont wurde: "Ich denke dein".
Ich denke dein, [Wenn]1 durch den Hain Der Nachtigallen Akkorde schallen!
[Wann]2 denkst du mein? Ich denke dein Im Dämmerschein Der Abendhelle Am Schattenquelle! Wo denkst du mein? Ich denke dein Mit süßer Pein, Mit bangem Sehnen Und heißen Thränen! Wie denkst du mein?
[O denke mein,]3 Bis zum Verein Auf besserm Sterne! In jeder Ferne Denk' ich nur dein!

28. Januar 1802Hölderlin wanderte im Winter mit einer Schusswaffe bewaffnet durch das Feindesland Frankreich, trifft nach einer wochenlangen unwegsamen und gefährlichen Reise tatsächlich wohlbehalten in Bordeaux ein und tritt seine neue Hofmeisterstelle beim Hamburger Konsul Daniel Christoph Meyer an. Konsul Meyer ist Weinhändler und hat in Blanquefort (nordwestlich von Bordeaux) seinen Landsitz mit eigenem Weingut, was Hölderlin natürlich interessiert, war doch sein Stiefvater ebenfalls Weinhändler in Nürtingen gewesen. Es dürfte Hölderlin auch interessiert haben zu sehen, wie der Wein in Fässern in die Welt verschifft wurde. Hölderlin hatte auf seiner Reise 1788 über Speyer auch schon sehr genau die geschäftigen Hafenarbeiter in Lussheim bei Speyer beobachtet, wie sie auf dem Rhein Schiffe ab- und aufluden.

In Bordeaux versteht sich Hölderlin mit seinem neuen Brotgeber sehr gut, auch macht Hölderlin seine Erziehungsarbeit ausgezeichnet wie Konsul Meyer im späteren Zeugnis schreibt. Dennoch wirke Hölderlin deprimiert und sehe für sein Alter ziemlich alt aus - als wäre Hölderlin über Nacht gealtert. So ähnlich berichten es die Leute in Bordeaux, die Hölderlin neugierig beäugen, weil er ein Fremder ist. Sie sagen, dass Hölderlin oft müde und erschöpft, traurig und bekümmert wirke, immer wieder sehnsüchtig in die Ferne schaue. Einen richtigen Zugang finden sie zu ihm nicht.
Eines Tages kündigt Hölderlin ohne Vorwarnung und ersichtlichen Grund. Am 22. Mai 1802 verlässt er Bordeaux, besucht auf der Heimreise das Kunstmuseum Musée Napoléon in Paris und geht dann vermutlich direkt nach Frankfurt, um seine Susette zu sehen.

Der Grund für Hölderlins plötzlichen Aufbruch aus Bordeaux kann ich mir nur damit erklären, dass Hölderlin erstens allgemein Heimweh nach seinem Vaterland, seinen Freunden und seiner Familie hatte. Bordeaux war eben schon sehr weit von zu Hause entfernt und damals gab es weder Bildtelefon noch Email - nur die gute alte Postkutsche, die manchmal im Schlamm steckenblieb oder überfallen wurde, sodass Nachrichten sehr zeitverzögert oder auch gar nicht den Empfänger erreichten.

Der Hauptgrund, denke ich, war aber die Sehnsucht nach Susette. Ohne sie hatte Hölderlin keine wahre Freude am Leben. Es ist eben nicht gut, wenn der Mensch ständig alleine ist, vor sich hin grübelt und alles mit sich selbst ausmachen muss, weder Freude noch Leid mit einem geliebten Menschen teilen kann. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie gerne er mit Susette die schöne Landschaft, das Meer und den Wein genossen hätte. Wenn Susette wegen ihrer vier Kinder, die natürlich noch ihre Mama brauchten, nicht bei ihrem ungeliebten Ehemann Jakob Gontard hätte bleiben müssen, wäre sie mit Hölderlin vielleicht an einem anderen Ort in einem anderen Land glücklich geworden (wie im 'Hyperion' schon als Traum beschrieben). "Die höchste Leidenschaft der Liebe erfährt auf Erden ihre Befriedigung nie", wie Susette schrieb.

Vielleicht hatte Hölderlin dazu noch eine böse Vorahnung, nämlich, dass es Susette nicht gut ging - so ähnlich beschrieb es Hölderlin ja schon in seinem 'Hyperion'. Der Schock muss daher umso tiefer gesessen haben, als Hölderlin Ende Juni vom Tod Susettens erfuhr, weil sich der Tod der 'Diotima' in Hölderlins 'Hyperion' bewahrheitet hatte.

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1804 - 1805 Das Foto zeigt das Haus, in dem Hölderlin von 1804 bis 1805 wohnte, bis er vom Vermieter wegen Ruhestörung rausgeworfen wurde. Hölderlin hatte das völlig verstimmte Klavier, das man ihm geschenkt hatte, wohl ziemlich malträtiert. Er war wütend, weil er nicht ordentlich darauf spielen konnte. Eine Gedenktafel an diesem Haus besagt, dass es 1986 wieder aufgebaut wurde.
Danach lebte Hölderlin bis zu seinem gewaltsamen Abtransport noch in der Haingasse 12. Das Haus existiert aber nicht mehr.

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Museum Sinclair-Haus Bad Homburg In der Dorotheenstraße stehen Häuser weiterer Persönlichkeiten, darunter auch das ehemalige Wohnhaus Sinclairs gegenüber vom Schlosspark, heute Museum Sinclair-Haus (Foto).


11. September 1806 Hölderlin wird aus Homburg ohne Zwischenhalt bei der Mutter in Nürtingen mit Gewalt in die Klinik nach Tübingen gebracht. Man wolle "ihm dabei auch gleich die Poesie aus dem Kopfe treiben".

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Anfang Mai 1807 wird Hölderlin zum Sterben entlassen. Man gibt ihn Schreinermeister Ernst Zimmer und seiner Frau in Pflege, dem Hölderlins Schicksal sehr nahe geht. Nach Zimmers Tod versorgt dessen Tochter Charlotte Zimmer ("Jungfer Loddl") Hölderlin und ihre alte Mutter.
Das Foto zeigt das Haus der Familie Zimmer, wo Hölderlin im ersten Stock das Turmzimmer mit Blick auf den Neckar bewohnte. Weitere Räume wurden den Tübinger Studenten vermietet.
Den Briefen Ernst Zimmers aus der Nürtinger Pflegschaftsakte ist zu entnehmen, dass Hölderlin Wein und Schnupftabak konsumierte. Im Sommer stand Hölderlin bei Tagesanbruch auf, um im Hausflur auf und ab zu laufen, denn er hatte noch immer einen Bewegungsdrang und konnte sich so am besten körperlich fit halten.
Der Dichter Wilhelm Waiblinger, der in Tübingen ab 1822 Theologie am Evang. Stift studierte, besuchte Hölderlin im Turm regelmäßig und lud ihn sogar ein, mit auf Literaturreise nach Italien zu gehen, was Hölderlin aber ablehnte. Er bliebe lieber zu Hause.

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Nachmittags genoss Hölderlin seinen Kaffee und gelegentlich eine Zigarre zusammen mit Christoph Schwab, der Hölderlin besonders in den letzten Lebensjahren regelmäßig besuchte, wie Pierre Bertaux in seinem Buch erzählt. Hölderlins Freunde sollen ihn auch manchmal zum nahegelegenen Biergarten mit Blick über Tübingen (siehe Foto) mitgenommen haben. Wenn Hölderlin in Begleitung den Turm verlassen durfte und dann jemandem aus der Psychiatrie auf der Straße begegnete, wurde er wütend und wollte auf denjenigen losgehen.
Abends um 7 Uhr speiste Hölderlin mit großem Appetit, um gleich danach zu Bett zu gehen.
Im Winter spielte Hölderlin die meiste Zeit gerne auf dem Klavier und sang, manchmal auch zusammen mit den Studenten im Haus. Wenn jemand einen Walzer spielte, wurde Hölderlin fröhlich und fing zu tanzen an, was alle belustigte (zit. nach Ernst Zimmer).

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Besonders in den ersten Jahren im Turm war Hölderlin unruhig und aggressiv, ängstlich und menschenscheu. Die unsinnige Psychotherapie, die nur als Folter und reine Gewalterfahrung benannt werden kann, hatte Hölderlin traumatisiert, aber mit den Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung wie Angstzustände, Unruhe und gesteigerte Wachsamkeit, Schlafstörungen, Depression und Aggression sowie ein generell gestörtes Bild von sich selbst und der Welt kannten sich die Ärzte im 19. Jahrhundert natürlich noch überhaupt nicht aus. Selbst bis heute im 21. Jahrhundert sind noch nicht alle Symptome und körperlichen Abläufe, die bei einer PTBS auftreten, bekannt und somit noch nicht abschließend behandelbar. Daher ist es noch heute dreist zu behaupten, dass Hölderlin von Geburt an unheilbar wahnsinnig gewesen wäre.
Nervenärzte deuteten damals ein solches Verhalten als Symptome einer Schizophrenie und glaubten, Hölderlin sei schon von Geburt an krank gewesen, was wir heute ebenfalls als üble Nachrede und Häme werten.

In unserem Stammbaum und der Familienchronik kennen wir niemanden, dem überhaupt eine (angeborene) Geisteskrankheit bescheinigt worden wäre. Schizophrenes Verhalten, das Hölderlin spätestens seit seiner Hauslehrertätigkeit im Schloss Waltershausen angedichtet worden war, zeigt sich u.a. in Denk- und Sprachstörungen. Alles, was Hölderlin in seinen Werken und Briefen bis zu seiner Entführung geschrieben hatte, kann ich verstehen und nachvollziehen. Er hatte nie etwas geschrieben, getan oder gesagt, das ich nicht nachvollziehen könnte. Im Gegenteil. Er war sprachlich sehr viel gewandter als ich es wohl je sein werde. Er konnte auch abstrakte und abgehobene Dinge beschreiben, die ich vollkommen verstehe. Hölderlin war gebildet und konnte schreiben. Mit seinem großen Wissen kann vielleicht nicht jeder mithalten. Wer glaubt, ihn nicht verstehen zu können, muss wohl oder übel Wörter, Namen und Hintergründe recherchieren, was ich auch gemacht habe. Letztlich bin ich dann zur Erkenntnis gekommen, dass wir uns im Denken und Wahrnehmen von Gott und der Welt doch sehr ähnlich sind. Wenn er denkt und schreibt, ist es, als säße ich neben ihm. Hölderlin ist für mich eine außerordentliche geistige Bereicherung und Inspiration, die ich in diesem (meinem) Leben nicht mehr missen möchte.

Vielleicht unterschrieb Hölderlin im Turm auch gerade deshalb seine Gedichte mit anderen Namen, weil er sich selbst im Turm nicht mehr als der frühere Hölderlin sah. Man hatte in der Anstalt aus ihm quasi einen anderen Menschen gemacht und sich dadurch eines großartigen Dichters und Mitmenschen beraubt.
Oftmals tobte Hölderlin sogar nachts um 3 Uhr und weckte das ganze Haus auf, schlug mit der Faust auf den Tisch, fluchte und schimpfte auf Professoren oder das Konsistorium, das ihm den ganzen Schlamassel überhaupt erst eingebrockt hatte - daher kann ich auch seine Wut auf die Kirche sehr gut verstehen. Was kann Hölderlin dafür, dass er von Geburt an unfrei war und in eine Zeit voller Barbaren geboren wurde?
Mit den Jahren wurde er zwar ruhiger und umgänglicher, aber er mochte es einfach nicht, wenn Fremde ihn besuchen wollten, weil er nach seinen schlimmen Erfahrungen Unbekannten verständlicherweise nicht mehr über den Weg traute.

Hölderlin war ein unbeugsamer und weiser Mann, der sich zeitlebens mit der Kirche angelegt hatte.
Nachdem einige Zeit vergangen war, wurde nochmal eine Untersuchung anberaumt. Die Ärzte sollten feststellen, ob Hölderlin genesen sei.
Man hatte auch schon eine Verwandte der Mutter auserkoren, die Hölderlin heiraten sollte. Eberhardine Blöst war die Auserwählte. Hölderlin wusste aber auch diese Dame zu umgehen, sodass schließlich sein Bruder Karl sie ehelichte. Nein, Hölderlin wollte keine andere Frau außer Susette Gontard. Und er wollte seine Ruhe vor diesen Barbaren !

Als Immanuel Nast, der Cousin von Hölderlins ehemaliger Verlobten Luise Nast aus Maulbronn, als Amtsperson im Zuge des Erbschaftsstreits, den Hölderlins Geschwister Heinrike und Karl nach dem Tod der Mutter Johanna 1828 begannen, zu Hölderlin in den Turm kam, war Nast beim Wiedersehen mit Hölderlin so ergriffen, dass er ihm "weinend wie ein Kind" um den Hals fiel, wie Ernst Zimmer selbst mit Betroffenheit in seinem Brief bezeugte. Immanuel Nast war zutiefst darüber bestürzt, was Hölderlin angetan wurde.
Die Geschwister Hölderlins bekamen schließlich ihren Erbteil, Hölderlin starb dennoch als wohlhabender Mann.

Die Tatsache, dass Hölderlins Mutter ihn nie im Turm besucht hatte, liegt vermutlich daran, dass es ihr die Kirche untersagte. Das war die Strafe für Hölderlin, weil er ungehorsam war. Die Kirche hatte umsonst viel in ihn investiert, um ihn als Pfarrer auszubilden. Wenn Ernst Zimmer Hölderlin sagte, er könne doch seiner Mutter schreiben, dann schrieb Hölderlin nur ein paar Zeilen und unterschrieb mit "Ihr gehorsamer Sohn". Ich denke, dass Hölderlin die Lage akzeptiert hatte, so wie sie war. Es hätte für ihn und die gesamte Familie sonst auch noch sehr viel mehr Nachteile haben können.

Am 16. April 1828 schrieb Ernst Zimmer an den Herrn Amtspfleger: "Ich weiß nicht ob Sie den Lieben Unglüklichen Hölderlin können, und Antheil an Ihm nehmen, Er verdient es gewiß in jeder Rüksicht. Die neusten Tag Blätter nennen Ihn den ersten Elegischen Dichter Deutschlands, schade vor Seinen herlichen, und großen Geist, der jezt in Feßlen liegt. Auch sein Gemüth ist so reuch, so tief, und so edel, daß mann selten einen Sterblichen finden wird der Ihm gleicht. Da Seine Edle nun Volendete Muter, schon lange vor Ihrem Hingang, für Seine Bedürfniße hinlänglich gesorgt, wie Sie es mir auch mehrere mahl geschrieben hat, so ist es, Traurig das mann Ihm nicht einmahl daß was Seine Muter für Ihn angeordnet hat, zuerkennen will, und auch da Ihn noch daß Schiksal verfolgt. Was wird Sein künftiger Biograf sagen, der wie ich hofe nicht ausbleiben wird, über diese Geschichte. [...]" (Scheuffelen & Wagner-Gnan, "... die Winter Tage bringt Er meistens am Forte Piano zu...", Seite 10-13, aus der Pflegschaftsakte Hölderlin im Nürtinger Stadtarchiv)

Beim Lesen der Briefe Hölderlins war ich auch zu der Ansicht gekommen, dass Hölderlin ein edles Gemüt hatte und ein sehr feiner Mensch war, dem man nicht alle Tage begegnet. Ernst Zimmer stimme ich voll und ganz zu und bin dankbar, Hölderlin auf meinem Stammbaum zu haben. Es ist für mich eine Ehre und ein wahres Bedürfnis, über ihn und weitere gemeinsame Verwandte zu berichten.

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07. Juni 1843Johann Christian Friedrich Hölderlin stirbt nachts um 11 Uhr im Alter von 73 Jahren. Lotte Zimmer hatte nicht damit gerechnet, obwohl Hölderlin durch seine Erkältung geschwächt war. Sie bescheinigt ein "sanftes Hinscheiden". Christoph Schwab ruft die Studenten auf, an der Bestattung teilzunehmen. Das Foto zeigt Hölderlins Grab auf dem Tübinger Friedhof.

10. Juni 1843Christoph Schwab hält die Grabrede und dankt insgeheim dem Himmel, dass ein heftiger Gewitterregen herniedergeht, sodass nur diejenigen Hölderlin die letzte Ehre erweisen, die echten Anteil nehmen. Sobald Hölderlin unter der Erde war, "brach die volle Sonne durch die Wolken". (Gottlob Kemmler, Freund von Christoph Schwab, der die Elegie 'Auf Hölderlins Grab' schrieb.)

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Das Bild zeigt Karl Goks Gedenkschrift an seinen lieben Bruder Friedrich.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Grabsteins steht:

"In heiligsten der Stürme
falle zusammen
meine Kerkerwand,
und herrlicher und freier
walle mein Geist
ins unbekannte Land."

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19. August 2020Das Bild zeigt das Hölderlingrab im August 2020. Anlässlich des Jubiläums wurde die Grabstelle aufpoliert. Der alte morsche Birnbaum hinter dem Grabstein, unter dem Hölderlin damals auf den Spitaläckern begraben wurde, ist komplett entfernt worden sowie das schöne nostalgische Efeu, das Baum und Grabfläche bedeckte. Die grüne Begrenzung wurde mit Bodendeckern und einer neuen Eiben-Hecke erweitert, der Grabstein gesäubert und bröckelnde Ecken mit Spachtelmasse wieder neu modelliert. Hinter der Grabstelle wurde ein neuer Baum gepflanzt, der hoffentlich genauso groß und schön wird wie der alte.

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Hölder-Wein aus Schloss NeuenburgDas Foto zeigt Schloss Neuenburg in Freyburg an der Unstrut.
Die dortige Winzervereinigung baut an den Hängen des Schlosses den Weißwein 'Hölder' an.
Zu Ehren Friedrich Hölderlins und der Stadt Lauffen am Neckar züchtete 1955 August Herold an der Staatlichen Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau in Weinsberg im Landkreis Heilbronn diese neue Rebsorte, indem er Riesling und Ruländer (Synonyme: Grauer Burgunder, Pinot gris) kreuzte, woraus ein fruchtiger Weißwein entstand.
In den Weinbergen entlang der Flüsse Saale und Unstrut findet der 'Hölder' heutzutage wohl beste Bedingungen.
Der goldene 'Hölder' gehört natürlich zu meinen Lieblingsweinen, und ich bin mir sicher, dass er Hölderlin auch geschmeckt hätte.

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20. März 2020 Anlässlich des 250. Wiegenfestes unseres lieben Ahnen und Familienmitglieds Johann Christian Friedrich Hölderlin gedenken wir ihm in aller Stille, in tiefer Liebe und seelischer Verbundenheit. Wir freuen uns für ihn, dass er seinen unverbrüchlichen Glauben an Gott und seine Liebe zur Menschheit nie verloren hat.

Hölderlin hat sein Schicksal auf Erden in Demut angenommen, weil er wusste, dass er geliebt wird und es für sein Seelenheil so und nicht anders richtig ist, weil von Gott so gewollt... "Denn der hat viel gewonnen, der das Leben verstehen kann, ohne zu trauern.", wie Hölderlin einmal sagte.